Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0713
DOI issue:
Mai-Heft
DOI article:Metzger-Hoesch, Oskar: Der Untergang des Abendlandes?
DOI Page / Citation link:https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0713
HERBST
Großstädtische Intelligenz.
Sophisten, Sokrates, Demokrit
Die Mathematik: Archytas. Plato
Die Philosophie: Plato, Aristoteles
Höhe streng geistiger Gestaltungskraft.
Sensualisten, Rousseau, Voltaire
Infinitesimalproblem
Goethe, Kant bis Hegel
WINTER
Anbrudi der welfsfadtisdren Zivilisation. Erlösdien der seclisdien Gestaltungskraft.
Ethisdi-praktisdie Tendenzen eines irreligiösen und unmetaphysischen Weltstädtertums
Cyniker, Cyrenaiker, Sophisten, Skeptiker, Bentham, Stirner, Marx
(Pyrrho)
Epikureer, Stoiker, Alexandrinismus
Fachwissensdiaftlidie Philosophie von der
Akademie bis zu den Epikureern
Hellenistisch-römischer Stoizismus seit 200
Sdiopenhauer, Nietzsche, Sozialismus,
Anarchismus, Hebbel, Wagner, Ibsen.
Kantianer, Hegelianer.
Der ethische Sozialismus seit Ende des
19. Jahrhunderts.
Der antike, „apollinische“ Mensch ist ahistorisch, d. h. er hat keinen geschichtlichen Sinn;
sein Leben ist ein punktuelles Dasein, Statik, im Gegensah zur Dynamik in der Seelenveranlagung
des Abendländers. Das Ursymbol seiner Kultur ist das Endliche, Gewordene, der Körper.
Daher liegt seine künstlerische Hauptleistung in der plastischen Kunst und im Drama mit seinen
maskenhaften, starren Schauspielern. Während der Abendländer (Leibniz) eine funktionale Mathematik
des unendlichen Raumes schafft, ersinnt der Grieche die euklidische Mathematik der vereinzelten
Körper. Er lebt dem Auge, der Gegenwart; Mutterkult und Kinderporträt fehlen seiner Religion
und Kunst, Er klammert sich an den „Vordergrund des Daseins“ und schließt die Augen vor
der ihm unwirklichen Ferne in Vergangenheit und Zukunft.
Ganz anders der faustische Mensdr des Abendlandes. Sein Ursymbol ist der unendliche
Raum, sein Lebenselement das Werden, seine eigenste Kunst die kontrapunktische Musik und
das Porträt, d. h. die künstlerische Biographie. „Fassen wir all dies zusammen, den Aspekt
der Sternenräume, zu dem sich das Weltbild des Kopernikus erweitert hat, die Beherrschung der
Erdoberflädre durdi den abendländischen Menschen („das Bleidrgesidit“) im Gefolge der Entdeckung
des Kolumbus, die Perspektive der Ölmalerei und der tragischen Szene und das durchgeistigte
Heimatgefühl; fügen wir die zivilisierte Leidensdiaft des schnellen Verkehrs, die Beherrschung
der Luft, die Nordpolfahrten und die Ersteigung kaum zugänglicher Berggipfel hinzu, so faudit
aus allem das Ursymbol der faustischen Seele, der grenzenlose Raum auf, als dessen Ableitungen
wir die besonderen, in dieser Form rein westeuropäischen Phänomene des Willens, der Kraft
der Tat aufzufassen haben.“ „Faustisch ist das Dasein, das mit tiefster Bewußtheit als
Innenleben geführt wird, . . . eine eminent persönliche Kultur der Memoiren, Reflexionen, der
Rück- und Ausblicke und des Gewissens.
Und fernab, obwohl vermittelnd, formenentlehnend, umdeutend, vererbend, erscheint die magische
Seele der arabisdren Kultur, zur Zeit des Augüstus in der Landsdraft zwisdren Euphrat
und Nil erwadrend, mit ihrer Algebra und Alchymie, ihren Mosaiken und Arabesken, ihren
Kalifaten und Moscheen und ihren sakralen Riten und ihrem Kismet.“
Wir Abendländer aber haben die Möglidrkeiten der faustisdren Seele erschöpft. Die moderne
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Großstädtische Intelligenz.
Sophisten, Sokrates, Demokrit
Die Mathematik: Archytas. Plato
Die Philosophie: Plato, Aristoteles
Höhe streng geistiger Gestaltungskraft.
Sensualisten, Rousseau, Voltaire
Infinitesimalproblem
Goethe, Kant bis Hegel
WINTER
Anbrudi der welfsfadtisdren Zivilisation. Erlösdien der seclisdien Gestaltungskraft.
Ethisdi-praktisdie Tendenzen eines irreligiösen und unmetaphysischen Weltstädtertums
Cyniker, Cyrenaiker, Sophisten, Skeptiker, Bentham, Stirner, Marx
(Pyrrho)
Epikureer, Stoiker, Alexandrinismus
Fachwissensdiaftlidie Philosophie von der
Akademie bis zu den Epikureern
Hellenistisch-römischer Stoizismus seit 200
Sdiopenhauer, Nietzsche, Sozialismus,
Anarchismus, Hebbel, Wagner, Ibsen.
Kantianer, Hegelianer.
Der ethische Sozialismus seit Ende des
19. Jahrhunderts.
Der antike, „apollinische“ Mensch ist ahistorisch, d. h. er hat keinen geschichtlichen Sinn;
sein Leben ist ein punktuelles Dasein, Statik, im Gegensah zur Dynamik in der Seelenveranlagung
des Abendländers. Das Ursymbol seiner Kultur ist das Endliche, Gewordene, der Körper.
Daher liegt seine künstlerische Hauptleistung in der plastischen Kunst und im Drama mit seinen
maskenhaften, starren Schauspielern. Während der Abendländer (Leibniz) eine funktionale Mathematik
des unendlichen Raumes schafft, ersinnt der Grieche die euklidische Mathematik der vereinzelten
Körper. Er lebt dem Auge, der Gegenwart; Mutterkult und Kinderporträt fehlen seiner Religion
und Kunst, Er klammert sich an den „Vordergrund des Daseins“ und schließt die Augen vor
der ihm unwirklichen Ferne in Vergangenheit und Zukunft.
Ganz anders der faustische Mensdr des Abendlandes. Sein Ursymbol ist der unendliche
Raum, sein Lebenselement das Werden, seine eigenste Kunst die kontrapunktische Musik und
das Porträt, d. h. die künstlerische Biographie. „Fassen wir all dies zusammen, den Aspekt
der Sternenräume, zu dem sich das Weltbild des Kopernikus erweitert hat, die Beherrschung der
Erdoberflädre durdi den abendländischen Menschen („das Bleidrgesidit“) im Gefolge der Entdeckung
des Kolumbus, die Perspektive der Ölmalerei und der tragischen Szene und das durchgeistigte
Heimatgefühl; fügen wir die zivilisierte Leidensdiaft des schnellen Verkehrs, die Beherrschung
der Luft, die Nordpolfahrten und die Ersteigung kaum zugänglicher Berggipfel hinzu, so faudit
aus allem das Ursymbol der faustischen Seele, der grenzenlose Raum auf, als dessen Ableitungen
wir die besonderen, in dieser Form rein westeuropäischen Phänomene des Willens, der Kraft
der Tat aufzufassen haben.“ „Faustisch ist das Dasein, das mit tiefster Bewußtheit als
Innenleben geführt wird, . . . eine eminent persönliche Kultur der Memoiren, Reflexionen, der
Rück- und Ausblicke und des Gewissens.
Und fernab, obwohl vermittelnd, formenentlehnend, umdeutend, vererbend, erscheint die magische
Seele der arabisdren Kultur, zur Zeit des Augüstus in der Landsdraft zwisdren Euphrat
und Nil erwadrend, mit ihrer Algebra und Alchymie, ihren Mosaiken und Arabesken, ihren
Kalifaten und Moscheen und ihren sakralen Riten und ihrem Kismet.“
Wir Abendländer aber haben die Möglidrkeiten der faustisdren Seele erschöpft. Die moderne
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