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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Michel, Wilhelm: Rede über Hölderlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0773

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REDE UBER HÖLDERLIN
GEHALTEN BEI DER HÖLDERLIN-GEDÄCHTNISFEIER DER FREIEN
LITERARISCH - KÜNSTLERISCHEN GESELLSCHAFT DARMSTADT
WILHELM MICHEL

Den äußeren Anlaß, uns hier zum Gedächtnis eines deutschen Diditers
zusammenzufinden; liefert die Gepflogenheit; die Erinnerung an große
Männer nach Maßgabe bestimmter Zeitabläufe aufzufrischen. Eine
Gepflogenheit; die zweifellos etwas äußerlicher Art ist; die aber anscheinend zu
eng mit menschlichen Schwächen sich verknüpft; um Widerstreben zu dulden. Es
gibt nur einen Weg, wie wir dem Odium dieser nicht sehr gedankentiefen Ge-
pflogenheit entrinnen können: wir müssen aus der äußerlich herbeigeführten
Begegnung ein Erlebnis von dauernder Wirkung zu machen suchen.
Der große Name, der heute über dieser Versammlung schwebt, gibt zu solcher
Umwertung eine verschwenderisch günstige Gelegenheit, Gelegenheit, teilzunehmen
am sichtbaren Werden und Wachsen eines Werkes, so, als lebte sein Schöpfer
noch mitten unter uns, als habe sich nicht seit 77 Jahren das Grab über seinem
sterblichen Rest geschlossen. Hölderlin lebt und wächst vor unsern Augen. Es
sind etwa 15 Jahre her, daß man ihn in einem Winkel des deutschen Pantheons
auffand und erkannte. Es sind 6 Jahre her, daß die größten seiner Dichtungen,
in denen die deutsche Sprache troß Luther und troß Goethe das kühnste hymnische
Schreiten wagte, zum ersten Male an das Licht traten. Es sind 4 Jahre her, daß
sein einziges Drama, der Tod des Empedokles, zum ersten Mal auf geführt wurde.
Es werden noch Monate vergehen, bis unvergleichliche Übertragungen des Sophokles,
die er uns schenkte, ihre Uraufführung erleben werden. Und ganz in der Zukunft
liegt es, daß dieser Dichter, der einzige Deutsche, der mit jedem Wort tief aus
dem raunenden Herzen des Deutschtums sprach, im deutschen Volke sich so
strahlend, beherrschend, sonnenhaft auswirke, wie es dieser edlen Kraft gebührt.
Wir, die wir seit langem das Unvergleichliche dieser Erscheinung zu erkennen
gewürdigt wurden, wir sind in der Lage von Menschen, die ihre Mitbrüder arm
und blind an einem Schaßc reinsten Goldes vorübergehen sehen. Dem Golde
geschieht kein Leid dadurch, daß es nicht ergriffen wird. Denn es ist gültig und
selig in sich selbst. Aber die Armut und Dürftigkeit um uns her erregt uns und

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