Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0774
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Juni-Heft
DOI article:Michel, Wilhelm: Rede über Hölderlin
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wir wünschen ihr Augen und Hände, sich endlich an Köstlichem zu bereichern.
Hölderlin nannte sich selbst „Dichter des Volks". Er wu|te, dab Völker und
Jahrhunderte durch seine Menschenstimme erklangen. Er wu|te, dab er Vor-
kämpfer des Abendlands und des Deutschtums war. Er war so sehr genährt aus
den ungeheuren Kräften der Gemeinschaft, dab er Sänger des Volks auch dann
wäre, wenn kein Deutscher ihn zu fassen verstünde. Aber es liegt im Plan der
Welt, dab das Grobe und Wahre aMdh als solches erkannt werde. Und so ist uns
heute der Name Hölderlin nicht ein Gegenstand mübiger ästheüsdier Betrachtung.
Er ist eine herrische, fast harte Forderung, uns endlich zu ihm hinauf zu steigern.
Alles Grobe und Starke tritt mit dieser Forderung an uns heran. Und erst wenn
ihr genügt ist, strömt es die Milde und Güte, die Begeisterung und das uner-
schöpfliche Leben aus, das es zu verschenken hat.
Dieser Dichter, 1770 geboren, erwächst uns im Sdiatten der groben Deutschen
seiner Zeit: im Schatten Schillers, Klopstocks, Winckelmanns, Von Schiller nimmt
seine Sprache das üppige rednerische Profil, den Prunk der Syntax, den Schwung
und die Anmut der Bewegung. Von Klopstock die Härte, die biblischen Elemente,
die religiöse Inbrunst, das hymnische Schreiten, die pindarische Beziehung zu Volk
und Vaterland. Von Windcelmann kommt ihm, auf dem Umwege über die all-
gemeine klassizistische Richtung der Zeit, die Liebe zu Hellas, die Verehrung der
antiken Kultur als höchster F ormleistung des Menschengeschlechts, die Anerkennung
des antiken Ideals als verpflichtender Norm für Kunst und Leben. Dahinein
mischt sich Ossianisches, Rousseauisches, Weitschmerzliches.
Wir finden alle diese Elemente in seiner Jugenddichtung vor, noch nicht durch-
blutet, noch im Zustande der bloben Ubernommenheit, als starre Fassade vor
eine Innerlichkeit gestellt, die ihre eigenste Form noch nicht erzeugen konnte.
Wir verfolgen nun, wie diese angenommenen Elemente vom Feuer des innen
brennenden Genius erhitzt, verzehrt oder umgeformt werden. Das Ossianische,
das Sturm- und Drang-Element wird abgestoben. Die Sprache tritt bewubter und
entschiedener unter den Einflub der Schillerischen Lyrik. Das innere Müssen
seines Wesens stellt zwei Dinge heraus, an denen Hölderlin sehr ernsthaft zu
leben und zu leiden beginnt: das klassische Altertum und die Natur.
Hölderlin überantwortet sich dem griechischen Ideal mit einer Hingabe ohne-
gleichen. Wir haben uns diesen Jüngling zu denken als einen Menschen, in dem
wenig Härte und abgrenzendes Ichgefühl war; ein hinströmendes, auffliegendes,
und grenzenlos hingabesüchtiges Wesen, in dem es noch keine Zusammenballung
gab, nur jene innere Verschwendung, der die Mystiker den schönen Namen
„Ausflieblichkeit" gegeben haben. Das atmet sich aus in schwärmend durchlebten
Freundschaften und hyperbolischen Jugendlieben, wird von kalter Welt zurück-
gescheucht und sammelt frühe Kränkungen, flutet aber immer wieder hinaus und
verschenkt sich an das Nicht-Ich, als eine frühe Erprobung jener Selbstentäuberung,
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Hölderlin nannte sich selbst „Dichter des Volks". Er wu|te, dab Völker und
Jahrhunderte durch seine Menschenstimme erklangen. Er wu|te, dab er Vor-
kämpfer des Abendlands und des Deutschtums war. Er war so sehr genährt aus
den ungeheuren Kräften der Gemeinschaft, dab er Sänger des Volks auch dann
wäre, wenn kein Deutscher ihn zu fassen verstünde. Aber es liegt im Plan der
Welt, dab das Grobe und Wahre aMdh als solches erkannt werde. Und so ist uns
heute der Name Hölderlin nicht ein Gegenstand mübiger ästheüsdier Betrachtung.
Er ist eine herrische, fast harte Forderung, uns endlich zu ihm hinauf zu steigern.
Alles Grobe und Starke tritt mit dieser Forderung an uns heran. Und erst wenn
ihr genügt ist, strömt es die Milde und Güte, die Begeisterung und das uner-
schöpfliche Leben aus, das es zu verschenken hat.
Dieser Dichter, 1770 geboren, erwächst uns im Sdiatten der groben Deutschen
seiner Zeit: im Schatten Schillers, Klopstocks, Winckelmanns, Von Schiller nimmt
seine Sprache das üppige rednerische Profil, den Prunk der Syntax, den Schwung
und die Anmut der Bewegung. Von Klopstock die Härte, die biblischen Elemente,
die religiöse Inbrunst, das hymnische Schreiten, die pindarische Beziehung zu Volk
und Vaterland. Von Windcelmann kommt ihm, auf dem Umwege über die all-
gemeine klassizistische Richtung der Zeit, die Liebe zu Hellas, die Verehrung der
antiken Kultur als höchster F ormleistung des Menschengeschlechts, die Anerkennung
des antiken Ideals als verpflichtender Norm für Kunst und Leben. Dahinein
mischt sich Ossianisches, Rousseauisches, Weitschmerzliches.
Wir finden alle diese Elemente in seiner Jugenddichtung vor, noch nicht durch-
blutet, noch im Zustande der bloben Ubernommenheit, als starre Fassade vor
eine Innerlichkeit gestellt, die ihre eigenste Form noch nicht erzeugen konnte.
Wir verfolgen nun, wie diese angenommenen Elemente vom Feuer des innen
brennenden Genius erhitzt, verzehrt oder umgeformt werden. Das Ossianische,
das Sturm- und Drang-Element wird abgestoben. Die Sprache tritt bewubter und
entschiedener unter den Einflub der Schillerischen Lyrik. Das innere Müssen
seines Wesens stellt zwei Dinge heraus, an denen Hölderlin sehr ernsthaft zu
leben und zu leiden beginnt: das klassische Altertum und die Natur.
Hölderlin überantwortet sich dem griechischen Ideal mit einer Hingabe ohne-
gleichen. Wir haben uns diesen Jüngling zu denken als einen Menschen, in dem
wenig Härte und abgrenzendes Ichgefühl war; ein hinströmendes, auffliegendes,
und grenzenlos hingabesüchtiges Wesen, in dem es noch keine Zusammenballung
gab, nur jene innere Verschwendung, der die Mystiker den schönen Namen
„Ausflieblichkeit" gegeben haben. Das atmet sich aus in schwärmend durchlebten
Freundschaften und hyperbolischen Jugendlieben, wird von kalter Welt zurück-
gescheucht und sammelt frühe Kränkungen, flutet aber immer wieder hinaus und
verschenkt sich an das Nicht-Ich, als eine frühe Erprobung jener Selbstentäuberung,
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