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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Juni-Heft
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Michel, Wilhelm: Rede über Hölderlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0775

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die ihn später befähigte; im Namen von Völkern und Jahrhunderten zu sprechen
und hymnische Sprachgebilde von sagenhafter Kühnheit zu türmen.
So ist auch die Hingabe an das Altertum bei ihm ohne Maß und Besinnen. Weit
entfernt von der weisen und schließlich nur ästhetisch gemeinten Art; in der etwa
Schiller und Goethe mit griechischen Göttern amen ihr Lied zierten; beginnt Hölderlin
die schreckende Herrlichkeit des Altertums bis zu begeisterter Selbstverzehrung an
sterblichem Herzen zu erleiden. Er macht Ernst mit ihr. Nachdem er das Un-
vergleichliche antiker Kunst- und Lebensform erkannt; bleibt ihm keine Möglich-
keit mehp seine Zeit und sein Volk zu bejahen oder auch nur zu ertragen.
Denn dieses Erkennen und Lieben des Altertums ist wohl zum Teil eine romantische
Flucht vor der Gegenwart. Zum weitaus größten Teil aber ist es Äußerung einer
Wahlverwandtschaft. Denn Hölderlins Geist ist von Natur hellenisch geprägt,
ebenso echt wie dies bei Goethe, freilich mit ganz anderer Wendung, der Fall war.
Eingeborenes Hellenentum nenne ich bei Hölderlin die Anlage, heldisch zu leben
unter Zwang und Adel großer Bindungen; Kunst zu fassen als Darlebung von
Völkern vor den Gewalten der Höhe; Natur und Leben zu bejahen als unmittelbar
Durchgotletes, das glänzend aus Dunkel quillt und heldenmütig steht gegen die
ewige panische Bedrohung; die Götter zu erkennen als gewitterhafte Gewalten,
die segnend und gefährlich sind; geistig zu leben in einem durchaus dynamisch
bestimmten Weltbild, in dem alles auf plastischem Zusammenstoß von Kraft mit
Kraft beruht; im Ganzen ein triebhafter religiöser und kultureller Aristokratis-
mus, in dem alles auf Arbeit und Heldentum gestellt ist, eine durchaus vordirist-
liche Geisteslage von echter Unschuld und Naturverschlungenheit, die sich erst
gegen das Ende hin christlich verfärbt in einem wunderbaren Wechsel der Töne.
Diese Anlage also weist ihn geistig nach Griechenland. Und vor dem griechischen
Ideal versinkt das Säkulum um ihn her ins Wesenlose. Wir hören von ihm Klage
über Klage: Mein Jahrhundert ist mir Züchtigung — Mein Herz gehört den Toten
an — Die Barbaren um mich her zerreißen meine Seele. Lange dauerte diese
Periode, von der er selbst sagt:
Da die Last der Zeit mich beugte
Und mein Leben kalt und bleich
Sehnend schon hinab sich neigte
In der Toten stummes Reich.


Bis zum Ausströmen dieser Totenklage um Hellas ist das deutsche Volk mit
Hölderlin gegangen. Sie ist reich ausgeprägt in Oden und Elegien, im Hyperion,
im ersten Entwurf des Empedokles, in zahlreichen Briefen. Erlauchtes und Einziges

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