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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Edschmid, Kasimir: Die Situation der deutschen Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0131

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DIE SITUATION DER DEUTSCHEN DICHTUNG.

Kasimir Eds di m i d.
EUTIGE Dichtung der Deutschen ist eine sehr klüftereiche Sache.
Da ist wohl Fluh und Weiher, Park, Chaussee und Sturzbach.
Wald und Himmel. Aber da ist auch Lust nach Himalaja neben
Dachsberg, Laubenkolonie und Sibirien, leninischer Durchbruch
und tirpißsche Kanone, auch kruppsche Stauanlage. Es geht
alles toll durcheinander. Man braucht aber Chaos nicht anzuerkennen. Es
kommt auf den Kern an. Schält man ab, was vorbei ist der Gesinnung und
Form nach, streicht man weg, was an Qualität nicht äußerst befriedigt, nimmt
man die (oft bedeutenden) Außenseiter nicht zu wichtig, mißt man Geist der
Dichtung am guten Barometer des Zeit-, und, ohne sich zu verwirren, am
Welt-Geist, so muß schon ein Typisches herauskommen. Es kann nicht
anders sein.
Es gibt dann zwei Dinge, die bleiben: Das Expressionistische und das, was
an Ethischem im Menschen, durch den Krieg massiert und zusammengedrückt,
als produktives Zentrum plößlich der Literatur Weg und Kraft und Deutung gab.
Gewöhnlich treffen sich die beiden zusammen. Doch ist das Expressionistische
nicht eine Formangelcgenheit, das wäre der bitterste Blödsinn. Sondern ist
das stärkste Recken der deutschen Seele nach geistigem Ausdruck, hat die Gipfel-
höhe auf Geistterrain von jenen drei großen Ausbrüchen der Nationsseele
ins kosmisch-übernationale: der Gotik, des mißglückten Barock, der Romantik.
Wird aber geschieden zwischen dem Expressionistischen und dem, was entseßt
dichtungshaft den Krieg anklagte, andonnerte, so soll das nur dies heißen:
daß es möglich ist, ohne direkt zur Zeitfrage Stellung zu nehmen, dichterisch,
Zeitgenosse, groß zu sein. Daß es aber auch möglich ist, in scharfem Kunst-
sinn gegen den Krieg, gegen das Antisoziale sehr schwere Dichtung zu schleudern,
ohne Expressionist sein zu wollen. Aber die Bedeutenden sind es. Es gibt
heute keine andere Form für die Zeit. Und Wollen ist schließlidr ein denun-
zierendes Verbum. Denn es seßt eine Wettlaufeinstellung des Hirns voraus.
Nicht aber die abgeschleuderte Flamme des Müssens. Darauf kommts allein
am Ende an.
In anderen Ländern ist die Kluft zwischen neuen Dichtungen und alten
nicht so gewaltig wie bei uns. Das kommt, weil ihre Literatur Nabelschnur
hat. Unsere aber nur die Zentrifugalkraft des Karussells. Wir waren früher
nicht allzu reich an Dichtung, die Sperma hatte, Eizellen, um zu zeugen, fort-
und hochzuentwickeln. Wir hatten gewöhnlich ein paar Riesen, die keine Kinder
machten, um sie herum Nebbichc, die karnickelhaft den Stumpfsinn, das drift-
klassische Niveau, die internationale Kifschigkeif weiter entwickelten. Von der


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