Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

DOI Heft:
Oktober-Heft
DOI Artikel:
Westheim, Paul: Lehmbrucks Lehr-und Werdejahre
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0039

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
ermöglichen, über die Kunst hinweg von Geist
zu Geist sidi zu verständigen. In dem Gegensah
zwischen bildnerischer Kraft und illustrativem
Darstellungsvermögen der Funktion entsdieidet
er sich für die primitive Urgewalt der Linie,
die ins Grobe und Feierliche aufstrebt. Er
entkörperlicht den Körper, um ihn zum Träger
von Erregung und Empfindung zu machen. Er
entkleidet ihn gewissermaßen des animalischen
Reizes, entäußert ihn der gegebenen Proportion,
um aus diesen eckigen, asketisdi ausgemergelten
Leibern ein Instrument der seelisdrcn Empfindung
zu machen. Wie der Pfeiler im Gewölbe einmal
nur Masse und Träger einer Masse, zum andern
aber empordrängende Sehnsudrt, ein Aufjubeln
aus bedrängter Seele ist, so ist bei Minne der
Versudr gemadrt, das Körperlidie der Gestalt
zum Aufgehen zu bringen in Kraftströmen, die
in sidi selbst das Geseß ihrer Rhythmik tragen.
Minne gerät damit — bestärkt vielleicht von
Gedankengängen des Präraffaelismus — in
Gegensaß zum klassisdien Kunsfwollen und
nähert sidi, ob bewußt oder unbewußt, gotisdicr
Denk- und Gestaltungsweise. Diese „heimliche
Gotik“ in ihm, die alles andere als Abhängigkeit
oder äußere Beeinflussung durdr gotisdie Von
bilden ist, die mißverstanden wird, wenn man
sie nicht aus ganz eigenem und ursprünglichem
Erleben zu erklären beginnt, ist das Element,
mit dem Minne aus seiner Einsamkeit heraus
in die Zeit hineinwirken mußte. Lagen in ihr
doch längst sdion die Kräfte bereit, die in der
Richtung nach Auslösung harrten.
Für Lehmbruck bedurfte es gewiß nur eines
leichten Anstoßes, um alles, was Gestalt sudiend,
in ihm drängte, zur Auswirkung zu bringen.
Jener Konflikt der Ablösung von einer überreif
gewordenen Kunsfkulfur und dem Wiederauf-
greifen verloren gegangener, aber anscheinend
noch längst nicht aufgebrauditer Ausdrucksmög-
lichkeiten lag latent in ihm. Minne dürfte es
gewesen sein, der durch die Kühnheit seiner
Einstellung ihm Mut gemadit hat, sidi von
seiner Vergangenheit abzulösen. Was Maillol
zu geben hatte, war immer noch der klassische
l ypus, war zwar ein Veredeln und tektonisches
Verklären des materiell Körperlichen, blieb aber
eigentlidi in der Ebene des Diesseitigen. Die

Duisburger Figur hat ihren Reiz als Akt-Dar-
stellung. Es war an ihr das Bemühen, Anschauung
und formale Disziplin zum Ausgleidi zu bringen.
Es kommt mehr darauf an, das objektiv Ge-
gebene zu ordnen, als aus der Vivion heraus
schöpferisdi zu gestalten. Ein ausgeprägter
Instinkt für das Funktionelle der Form läßt dieses
Ordnen mit einer Sidierheit und Überlegtheit
gesdichen, daß von hier aus die Einschäßung
zu erfolgen hat. Breit, ins Massige gestreckt
und — im Gegensaß zu der vertikalen Tendenz
der späteren Entwickelung — horizontal aus-
ladend, ruht der Körper in einer wohlabgewogenen
Harmonie. Von einer ausgesprodiencnBcwegungs-
ridhtung nodi keine Spur. Fast könnte man
sogar eine, wenn audi versteckte Symmetrie der
Massen feststellen. Alles ist auf Ruhe, Ge-
glidienheit, Wohlabgewogcnheit eingestellt. Es
ist bezeidmend, daß zwischen dieser Arbeit und
der «Knienden», die 1911 in Paris zur Aus-
stellung gelangt und in der nun alles stürmisches
Empordrängen, innere Erregtheit, triebhaftes
Aufsteilen ist, nur ein Jahr liegt. Es ist so,
als ob dieser Lehmbruck, der fast mit pedan-
tisdienr Ernst jeder Möglidikeit des Gestaltens
nachgeht, der vergriibelt und versonnen sidi
auseinanderseßt mit allen Problemen, die ihm
aus der Zeit heraus Zuströmen, sich einen
plößlidien Ruck gegeben habe; alle Hemmungen,
alle Bedenklichkeiten sind überwunden, er gibt
das Werk, das in sich zusammenfaßt jenes
unausgesprodiene Sehnen der Zeit nadi Groß-
heit der Empfindung, monumentaler Geste und
innerer Architektonik, nach all dem, was man
eben als „heimliche Gotik“ anspredien zu können
vermeint hat. Worringers Buch, das im gleichen
Jahr- erschienen ist, hätte aus der Gegenwart
heraus kaum eine zwingendere Bekräftigung
erfahren können.
Die «Kniende» ist mehr als ein gliicklidier
Wurf; sie eröffnet ihrem Sdiöpfer einen Weg,
auf dem er, so kritisdi er gegen sidi selbst
audi immer bleibt, weiterschreiten konnte. Durdi
sie wird Lehmbruck zu dem Sülsdiöpfer, der
allein sdion durdi die Richtung seines Wollens
Energien in die Zeit hineinstößt, die zum gering-
sten Teil erst fruditbar geworden und sidierlich
noch längst nidit erschöpft sind.

15
 
Annotationen