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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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November- Dezember-Heft
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Peterson, Otto P.: Das mystische Element in den Dramen Tolstois und Gorkis
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0243

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anteil am Boden weder verkauft noch versduifdet
werden konnte. Die Bevölkerungszunahme
war aus diesen bäuerlichen Verhältnissen eine
außerordentliche; sie beträgt gegenwärtig gegen
180 Millionen (zu 78 Millionen i. J. 1878).
Die russische Regierung wollte ihren Großgrund-
besitzern und ihrer aufblühenden Industrie
Industriearbeiter geben, die nur dadurch be-
schafft werden konnten, daß die Regierung den
„Mir“ auflöste. Auf diese Weise wurden aus
landlosen Bauern Proletarier. Berücksichtigt
man ferner, daß die Regierung fast dreiviertel
aller Einkünfte aus dem Branntweinmonopol
sich sidierte, so versteht man, wie tragisch sich
das Schicksal des landlosen und in der Stadt
oft stellenlosen russischen Bauers gestaltete.
Im Branntwein sudite er Betäubung und sank
dann von Stufe zu Stufe. In dieser Welt fanden
sich dann auch andere Vertreter der Bevölkerungs-
schichten ein: Aristokraten, Gelehrte, Kaufleute
Beamte und Kleinbürger. Alle hatten im Leben
Sdriffbruch gelitten und waren hier „Am Boden"
angelangt, wie die wörtliche Übersetzung des
J itels von Gorkis Drama lautet, da »Nadit-
asyl« eine willkürliche überseßung ist.
Wer in Gorkis Barfüßlergestalten nur Ab-
bilder des russischen Lebens sieht, versteht
weder Gorki, nodi das russische Leben und die
mystisdre Volksseele seiner Heimat. Wie soll
diese Psyche und ihr Verhältnis zur Kunst, ins-
besondere zur dramatischen Kunst, bewertet
werden ?
Zum Verständnis des Ideenganges in der
russischen Literatur sind von grundlegender
Bedeutung einige Gedanken des größten rus-
sischen literarisdien Kritikers: Wissarion Gri-
gorjewitsch Bjelinsky (1811 —1848), der auf
die russisdre Literatur einen gleichen Einfluß,
wie Lessing auf die deufsdre, aus ge übt hat.
Einige Gedanken Bjelinskys über Kunst mögen
hier folgen :
„Die ganze unendlich schöne Gotteswelt ist
nichts anders als das Atmen einer einzigen
ewigen Idee (Gedanken des einigen ewigen
Gottes), die in unendlich verschiedenen Formen
sich offenbart, wie das gewaltige Schauspiel
absoluter Einheit in unendlidrer Mannigfaltigkeit."

„In das Heiligtum der Kunst darf man nur
mit reinen Füßen und Händen und dem Herzen
eines Kindes treten, denn nur ihrer ist das
Himmelreich."
Im Gegensatz zu Lessing und der deutschen
Kunstkritik, in das absolut Geistige deutscher
Denkart, trägt Bjelinsky — außer der gleich-
artigen russischen geistigen Kritik, — das Geist-
liche und Mystische hinein. Das ist slawisch,
das ist russisch. Diese Mystik ist, kurz gesagt,
das Diesseitsbewußtsein Gottes als ein in der
Gegenwart erreichbares Ziel. Ein Bild dieser
Mystik, und zugleich das Unterscheidende zwischen
Osten und Westen, — zwischen Rußland und
dem übrigen Europa, — ist das in russischen
Mystikerkreisen oft angeführte evangelische Bild
von Maria und Martha, den Schwestern des
Lazarus. — Maria sitzt, ein Bild der Passivität
zu den Lebensaufgaben, still zu Jesu Füßen, —
ganz Seele und nur auf Seele eingestellt, —
während Martha, ein Bild der Aktivität und
Produktivität im Leben ist: tätig, intellektuell, —
überwiegender Charakter des Verstandsmenschen.
Aus diesen Gegensäßen zwischen Osten und
Westen, einer verschieden gearteten Gedanken-
welt und nationalen Eigentümlichkeit, läßt sich
der dem Westeuropäer oft unverständliche Ein-
schlag mystischer Lebensauffassung nachweisen,
— anfangend von Bjelinsky von dem im Mysti-
zismus endenden Gogol (1809 — 1852), bis
Dostojewski und Leo Tolstoi, — bis Gorki . .
Daher muß in dem naturalistischen Drama
Tolstois und Gorkis, troß der dem realen Leben
abgelauschten Sprache und der ihm entnommenen
Typen, das Symbolische und Mystische be-
trachtet werden. Darum ist die Handlung,
darum sind die Personen in Tolstois »Macht
der Finsternis« und Gorkis »Nachtasyl«, im
Grunde genommen, nur das Rankenwerk und
der Rahmen für die im Mittelpunkt dieser
Dramen stehenden mystisdren Gestalten: bei
Tolstoi der Bauer Akim und bei Gorki der
Bauer Luka. Beide Gestalten sind das Spiegel-
bild des Seelenlebens der beiden volkstümlichsten
Dichter und das des russischen Volkes, das seit
Jahrhunderten nur die eine ungestillte Sehnsucht
kennt: das G o 11 s u ch e n. Die Weihe und
Seelengröße dieser beiden Gestalten findet sich
 
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