aber glücklich alle Stile durchgehest und alle
Stile verekelt waren, kam die ungeheure Angst,
sidr mit Stil überhaupt zu blamieren, und es
entstand jene Wut des Gradlinigen und Schmuck-
losen, im Vergleich zu der eben Biedermeier
eine Zeit von schwüler Phantasie war. Es kam
jene Phrase auf, daß die Dinge nur nodi durch
die Qualität des Materials an sidr wirken dürften.
Eine ausgesprochene Barbarenphrase, denn nur
durch die Qualität an sidr wirken ist ebenso
einfadr wie roh, jeder unbehauene Kloß wirkt
durch nidrts anderes. Die Kunst beginnt eben
dort, wo die formende Phantasie über die reine
Qualität des Materials triumphiert, wo sie formt
und zwingt, über die tote Materie hinaus zum
lebenatmenden Bestandteil einer Zeitkultur zu
werden. Vor dieser Phantasie haben wir Furdrt
gehabt; wir haben nur scholastische Nadi-
ahmung oder mathematisdie Formeln gekannt.
Wir haben so schrecklich viel Wert auf die
künstlerische Form jedes Dinges gelegt, weil
wir kein Kunstgefühl besessen haben und weil
wir daher statt der Kunstf o r m e n Kunstf a s s a d e n
vortäusdrten, — ein Betrug gegen uns selbst
und gegen die Zukunft. Ich neige dazu, in dem
Musdiel- und Sdmecken-Stil der neunziger Jahre
immer nodi mehr Kunstgefühl und Möglichkeit
zu eigener Stilbildung — wenn auch kiimmerlidi
genug — zu sehen, als in der ängstlichen Linie
der Gegenwart, die aus lauter Furdit, sich zu
blamieren, den lebten Funken künstlerischer
Phantasie ausgetreten hat.
Zeiten, die keine Kunst besitzen, schreien am
lautesten nach Kunst. Ich will nicht von der
kleinen Gemeinde der Kunstsammler reden; sie
haben als Einzige in der ganzen Welf das
anständige Gefühl dafür, daß ein Ganzes wie
ein Zimmer im Augenblicke einheitlich ist, wo
jede Einzelheit gut ist, und daß Stil nichts
anderes bedeutet, als eine vollkommene Gesamt-
heit vollkommener Einzelheiten. Aber die Mehr-
heit, die nodi gewöhnlich über die seltsamen
Neigungen dieser kleinen Minderheit zu lächeln
pflegt, versteht unter Stil ein tyrannisches Geseß
vom Sdirank bis zur Teppichbürsfe, ein fyran-
nisdies Geseß, das den Gegenstand ohne
Riicksidit aut seine Natur einer mathematischen
Regel unterwirft. Die Angst, sidi gegen diese
Regel zu verfehlen, hat fafsädilich unsere
deutschen Mitbürger so weif gebradif, daß sie
über ihre Tisdie keine Decke breiten, die nicht
irgend eine Kunstgewerblerin entworfen hat, und
daß sie ihre Blumen auf diese Decke wieder
in eine Vase stellen, die nidit ihnen gefällt,
sondern das Werk irgend eines zehnmal abge-
stempelfen Keramikers ist. Unter den Mensdien,
die sidi durdi Geld und Stellung zur Kunst
verpfliditef fühlen, besteht in der Tat eine solche
wahnsinnige Angst vor einer eigenen Äußerung
des persönlichen Gesdimacks, daß man daraus
mit einiger Sicherheit sdiließen kann, sie be-
sten keinen. Und nur eine Radie bleibt der
gequälten Seele, die inmitten eines' Milieus zu
leben gezwungen ist, das ihr nidrts sagt und
dem sic nidrts zu sagen hat: sie läßt einfadr
sdrwer verheirafbare Töchter irgend eine Kunsf-
gewerbeschule besudren, unr sie dann wieder
als Kunstgewerblerinnen auf die Mensdrheit
loszulassen: Ich habe es nidrt leidrt gehabt, nun
sollt Ihr es auch nidrt leicht haben!
Im Ernste gesprochen ist wohl kein Mißver-
ständnis darüber nröglidr, daß die künsflerisdre
Form eines Gegenstandes etwas vollendeteres
und wertvolleres darsfellf, als eine unkünsf-
lerisdre Form. Die Meinungen gehen nur über
die Begriffe künsflerisdr und unkünsflerisdr aus-
einander. Alles, wozu erzogen werden muß,
ist keine Kunst. Aber irgend ein Hirte mag
auf der grünen Wiese bei seiner Herde mit
leichter Hand ein Gefäß aus Ton formen, in dem
alle leßfe Schönheit ist, — noch einmal gesagt:
Kunst ist da wie Sonnensdrein und Regen, sie
ist ebenso natürlich und selbstverständlich. Man
hat Kunst, aber man will sie nicht, oder, wenn
man sic will, hat man sie eben nicht. Kunst
ist Sehnsucht nach Vollkommenheit, sie war das
zu jeder Zeit, aber Kunst ist nicht Sehnsucht
nach Kunst. Ein Ding zu seiner Vollkommen-
heit zu gestalten, das erstrebt ein jeder Ar-
beitende aus sich und seiner Zeit heraus, durdi
dieses Streben nach Vollkommenheit des einzelnen
Dinges in einer Zeit entsteht von selbst ein
Kunsfsfil. Aber aus einem Ding ein Kunstwerk,
Kunst machen zu wollen, das ist eine erkünstelte
Sache, die jenseits des Dinges ein abstraktes
Ideal vor Augen hat. Denn im Vertrauen kann
gesagt werden: kein Mensch weiß, was Kunst
Stile verekelt waren, kam die ungeheure Angst,
sidr mit Stil überhaupt zu blamieren, und es
entstand jene Wut des Gradlinigen und Schmuck-
losen, im Vergleich zu der eben Biedermeier
eine Zeit von schwüler Phantasie war. Es kam
jene Phrase auf, daß die Dinge nur nodi durch
die Qualität des Materials an sidr wirken dürften.
Eine ausgesprochene Barbarenphrase, denn nur
durch die Qualität an sidr wirken ist ebenso
einfadr wie roh, jeder unbehauene Kloß wirkt
durch nidrts anderes. Die Kunst beginnt eben
dort, wo die formende Phantasie über die reine
Qualität des Materials triumphiert, wo sie formt
und zwingt, über die tote Materie hinaus zum
lebenatmenden Bestandteil einer Zeitkultur zu
werden. Vor dieser Phantasie haben wir Furdrt
gehabt; wir haben nur scholastische Nadi-
ahmung oder mathematisdie Formeln gekannt.
Wir haben so schrecklich viel Wert auf die
künstlerische Form jedes Dinges gelegt, weil
wir kein Kunstgefühl besessen haben und weil
wir daher statt der Kunstf o r m e n Kunstf a s s a d e n
vortäusdrten, — ein Betrug gegen uns selbst
und gegen die Zukunft. Ich neige dazu, in dem
Musdiel- und Sdmecken-Stil der neunziger Jahre
immer nodi mehr Kunstgefühl und Möglichkeit
zu eigener Stilbildung — wenn auch kiimmerlidi
genug — zu sehen, als in der ängstlichen Linie
der Gegenwart, die aus lauter Furdit, sich zu
blamieren, den lebten Funken künstlerischer
Phantasie ausgetreten hat.
Zeiten, die keine Kunst besitzen, schreien am
lautesten nach Kunst. Ich will nicht von der
kleinen Gemeinde der Kunstsammler reden; sie
haben als Einzige in der ganzen Welf das
anständige Gefühl dafür, daß ein Ganzes wie
ein Zimmer im Augenblicke einheitlich ist, wo
jede Einzelheit gut ist, und daß Stil nichts
anderes bedeutet, als eine vollkommene Gesamt-
heit vollkommener Einzelheiten. Aber die Mehr-
heit, die nodi gewöhnlich über die seltsamen
Neigungen dieser kleinen Minderheit zu lächeln
pflegt, versteht unter Stil ein tyrannisches Geseß
vom Sdirank bis zur Teppichbürsfe, ein fyran-
nisdies Geseß, das den Gegenstand ohne
Riicksidit aut seine Natur einer mathematischen
Regel unterwirft. Die Angst, sidi gegen diese
Regel zu verfehlen, hat fafsädilich unsere
deutschen Mitbürger so weif gebradif, daß sie
über ihre Tisdie keine Decke breiten, die nicht
irgend eine Kunstgewerblerin entworfen hat, und
daß sie ihre Blumen auf diese Decke wieder
in eine Vase stellen, die nidit ihnen gefällt,
sondern das Werk irgend eines zehnmal abge-
stempelfen Keramikers ist. Unter den Mensdien,
die sidi durdi Geld und Stellung zur Kunst
verpfliditef fühlen, besteht in der Tat eine solche
wahnsinnige Angst vor einer eigenen Äußerung
des persönlichen Gesdimacks, daß man daraus
mit einiger Sicherheit sdiließen kann, sie be-
sten keinen. Und nur eine Radie bleibt der
gequälten Seele, die inmitten eines' Milieus zu
leben gezwungen ist, das ihr nidrts sagt und
dem sic nidrts zu sagen hat: sie läßt einfadr
sdrwer verheirafbare Töchter irgend eine Kunsf-
gewerbeschule besudren, unr sie dann wieder
als Kunstgewerblerinnen auf die Mensdrheit
loszulassen: Ich habe es nidrt leidrt gehabt, nun
sollt Ihr es auch nidrt leicht haben!
Im Ernste gesprochen ist wohl kein Mißver-
ständnis darüber nröglidr, daß die künsflerisdre
Form eines Gegenstandes etwas vollendeteres
und wertvolleres darsfellf, als eine unkünsf-
lerisdre Form. Die Meinungen gehen nur über
die Begriffe künsflerisdr und unkünsflerisdr aus-
einander. Alles, wozu erzogen werden muß,
ist keine Kunst. Aber irgend ein Hirte mag
auf der grünen Wiese bei seiner Herde mit
leichter Hand ein Gefäß aus Ton formen, in dem
alle leßfe Schönheit ist, — noch einmal gesagt:
Kunst ist da wie Sonnensdrein und Regen, sie
ist ebenso natürlich und selbstverständlich. Man
hat Kunst, aber man will sie nicht, oder, wenn
man sic will, hat man sie eben nicht. Kunst
ist Sehnsucht nach Vollkommenheit, sie war das
zu jeder Zeit, aber Kunst ist nicht Sehnsucht
nach Kunst. Ein Ding zu seiner Vollkommen-
heit zu gestalten, das erstrebt ein jeder Ar-
beitende aus sich und seiner Zeit heraus, durdi
dieses Streben nach Vollkommenheit des einzelnen
Dinges in einer Zeit entsteht von selbst ein
Kunsfsfil. Aber aus einem Ding ein Kunstwerk,
Kunst machen zu wollen, das ist eine erkünstelte
Sache, die jenseits des Dinges ein abstraktes
Ideal vor Augen hat. Denn im Vertrauen kann
gesagt werden: kein Mensch weiß, was Kunst