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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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November- Dezember-Heft
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Walzel, Oskar: Sittliche Ziele in neuester Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0171

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Art der Weltbetraditung stamme, nidit jedodi zu einer alles überschauenden Höhe emporgestiegen
sei und sidi nicht von allen Fesseln einer begrenzten Weltanschauung freigemacht habe. Gerade
diese Unduldsamkeit deckt die Wurzel auf, aus der sich der Relativismus entwickelt hatte.
Meisterhaft sdried — mitten im Zeitalter des Relativismus — der Philosoph Wilhelm
Dilthey die drei Möglichkeiten mensdrlichen Verhaltens zur Welt. Die drei Möglichkeiten, nidrt
blök drei Möglichkeiten. Mag auch Diltheys Sdreidung nidrt durch Ableitung aus einem höchsten
Begriff gewonnen sein, sondern aus gesdiichthdrer Erfahrung und aus Beobachtung alter wie
neuer Wege des geistigen Lebens stammen, sic erhebt gleidrwohl und mit Recht den Ansprudr,
die Zahl der Möglichkeiten von Weltanschauung zu ersdröpfen. Dilthey erkennt jeder der drei
Anschauungen gleiches Rcdrt zu und gleiche Notwendigkeit.
Dilthey scheidet: Materialismus und auf Naturerkenntnis gegründeten Positivismus, zweitens
objektiven Idealismus, drittens Idealismus der Freiheit.
Der ersteir Gruppe gehören an: Demokrit, Lukrez, Epikur, Hobbes, die Enzyklopädisten,
Cornte. Der zweiten: Heraklit, die Stoa, Spinoza, Leibniz, Shaftesbury, Goethe, Schelling,
Schleiermadrer, Hegel. Der dritten: Platon, Cicero, die christlidre Spekulation, Kant, Fichte,
Schiller, Carlyle.
Die erste Gruppe erklärt die geistigen aus der physisdien Welt. Sie will die Wirklidikeit
erkennen, indem sie die Natur studiert. Die zweite Weltansehauung wird bestimmt vom Ver-
halten des Gemüfslebens. Ihr ist Wirklichkeit der Ausdruck eines Innerlidien, die Entfaltung
eines unbewußt wirkenden seelischen Zusammenhangs. Die dritte bestimmt die Auffassung der
Welt aus dem Verhalten des sittlidicn Willens. Der Geist macht in ihr sidi unabhängig von
der Natur.
Die erste Richtung kennt nur den Begriff Kausalität. Sie verwirft jedes Aufsudien von
Wert und Zweck. Die zweite will den Wert der Dinge erfassen, Lobenswerte feststellen, Be-
deutung und Sinn der Welt erkennen. Sie erblickt in allem Einzelwirkenden etwas Göttliches,
das die ^Erscheinung bestimmt nach dem Verhältnis teleologischer Kausalität. Die dritte findet
ihre Grundbegriffe in der Souveränität der Pcrsönlidikcit über den Weltlauf, in der göttlidien
Personalität, in der Schöpfung.
Fraglos will sidi heute wieder die dritte Riditung durchsehen. Sie kann es nur, wenn sie
die beiden andern bekämpft und überwindet. Sie streitet also ebenso gegen Weltanschauung
des Materialismus wie gegen die Weltansdiauung Goethes.
Auf Materialismus geht zum guten Feil die deutsdie realistische Dichtung des neunzehnten
• Jahrhunderts zurück. Der Materialismus wirkte sdion in seinen Anfängen und in seiner Urform
auf deutsche Erzähler. Er entwickelte sich zum Positivismus und zum Relativismus, sobald
er fortschritt zur Prüfung der Möglidikeit und der Grenzen der Erkenntnis. Immer nodi holte
er seine Kraft aus der Naturforschung. Der Relativismus, die Voraussetzung der deutschen
Kunst um 1900, ist erkenntniskritisch verfeinerter und vertierter Materialismus. Die deutsdie
Kunst des ausgehenden neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts gehört also
dem ersten Typus an.
Die grofse deutsdie Dichtung unseres Klassizismus erstieg ihre Höhe dank Goethe, einem
Iräger von Diltheys zweitem Typus. Nicht nur den Deutsdien ist damit erwiesen, dah dieser
1 ypus zu kiinstlerisdier Tätigkeit gut taugt. Neben Goethe aber steht Schiller, ein Vertreter
des dritten I ypus. Unser Hochklassizismus also, zweigipfelig wie er ist, bewegt sich im Um-
kreis des zweiten und dritten Typus. Er steht zu dem ersten in sdiarfem Gegensah.
Von vornherein liegt es nahe, einer materialistischen Weltanschauung nur geringe F ähigkeit
kiinstlerisdier Gestaltung zuzuerkennen. Kunst ist geistige Arbeit. Lind wenn audi nur der dritte

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