dissoniert. Da nun ein Tonstück eine künst-
lerisch geregelte Abfolge von Spannungen und
Lösungen darstellt, die wir, soweit es sich um
harmonische Verhältnisse handelt, Dissonanzen
und Konsonanzen nennen, so entsteht die Frage,
ob und mit welchen Mitteln ein musikalisches
Kunstwerk auf rein dissonanter Grundlage mög-
lich sei. Ich bin überzeugt, dalz der Komponist
der »Salome« die Frage nach dem Ob ver-
neinen würde, weil für jeden „kadenzierenden"
Meister (und hätte er auch die Dissonanzen-
Grammatik so bereichert wie Richard Straub)
ein rein dissonantes Tonstück in sich so wider-
spruchsvoll wie etwa der Begriff des runden
Vierecks ist. Zum Glück steht blolj noch
die Frage des Wie zur Diskussion, weil
die des Ob durch schöpferische Akte,
Schönbergs »Pierrot Lunaire« zumal, ihre
Beantwortung gefunden hat. In dieser bizarrsten
aller Partituren, Melodramen, die Sdrönberg
zu dreimal sieben Gediditen von Albert Giraud
geschrieben — treten an die Stelle terzenmäljig
aufgebauter Akkorde Quartenharmonien, Har-
monien also, die, sich nicht „auflösen" lassen
und nach der alten Lehre ewig dissonieren.
Dessenungeachtet stellen sich bei Hörern, die
sich mit Nietzsches „drittem Ohr" (des
Musikers widttigstem) in diese Musik ein-
fühlen, Lösungsgefühle ein, die den durch Kon-
sonanzen ausgelösfen gleichwertig sind: eine
Erscheinung von größter Tragweite, die man
ignorieren und mit Berufung auf die Hand-
büdier wegdisputieren, aber nicht aus der Welt
sdraffen kann. Wenn die alten Anschauungen
auf die Moderne nicht passen — und es wäre
sdilimm, wenn sie auf sie paffen — so müssen
sie eben durch neue ersetzt werden. Es ist in
Deutschland um die musikalische Moderne spott-
schledii bestellt. Die falsche Moderne erfreut
sich des Schutzes mächtiger Gönner, die echte
wird nadi allen Regeln der Kunst drangsaliert.
Die erdrückende Mehrheit der zünftigen und
unzünftigen deutschen Beurteiler empfindet leider
in musikalischen Dingen nodr immer renaissance-
mä^ig, d. h. sie betrachtet die Tonkunst als
eine Kunst der skandierten Symmetrien. Wer
„zwischen den Künsten" zu lesen versteht, dem
wird der Gedanke nidrt phantastisch Vorkommen,
dab die klassische Sinfonie, trotz gänzlich ver-
schiedenen Stimmungsgehaltes, ein ähnlich balan-
ciertes Ganzes darstellt wie z. B. eine nadr dem
„Renaissance-Dreieck" komponierte Santa con-
versazione. Verlangt man der musikalischen
Moderne renaissancegeredrte Kontraposte ab,
so läuft das ungefähr auf dasselbe hinaus, als
ob man erwartete, daf> ein Bild von Kokoschka
den Anschauungen Winckelmanns, und Goerings
»Seeschlacht« den Regeln von Freytags »Technik
des Dramas« entspreche. So töricht eine soldre
Forderung klingt, sie wird von unseren Musik-
Winckelmanns täglidr erhoben. Man begreife
doch endlich, dalz der moderne musikalische
Stilwille auf kein Chaos, sondern auf die
Ersetzung greifbarer, allzu greifbarer und daher
abgenutzter Symmetrien durdr ungreifbare und
gleichsam sdrwebende abzielf! Das ist’s, was ein
Schönbergschüler meint, wenn er von der Musik
des Meisters sagt: „Sie hat einen Rhythmus, wie
auch das Blut seinen Rhythmus stöbt ... sie
hat eine Tonart, aber so wie das Meer eine
Tonart hat und der Sturm. Es steht immer
ein Bau da, aber wir können ihn nicht nach-
bauen in uns". Die Zeit dürfte kommen, wo
wir auch die Musik des Vaters des musikalischen
Expressionismus — der musikalische Im-
pressionismus scheint den Deutsdren nicht im
Blute zu liegen — in uns nachbauen können.
Es liegt ja in der Natur des Menschen, überall
ein dem seinen konformes Dasein unterzulegen.
Kommt Sdrönbergs Zeit nicht, so wird uns ein
Stärkerer als er die Kraft des neuen Pathos emp-
finden lassen, jenes morgenjungen Pathos, vor
dem die Dämmervögel entfleudren.
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lerisch geregelte Abfolge von Spannungen und
Lösungen darstellt, die wir, soweit es sich um
harmonische Verhältnisse handelt, Dissonanzen
und Konsonanzen nennen, so entsteht die Frage,
ob und mit welchen Mitteln ein musikalisches
Kunstwerk auf rein dissonanter Grundlage mög-
lich sei. Ich bin überzeugt, dalz der Komponist
der »Salome« die Frage nach dem Ob ver-
neinen würde, weil für jeden „kadenzierenden"
Meister (und hätte er auch die Dissonanzen-
Grammatik so bereichert wie Richard Straub)
ein rein dissonantes Tonstück in sich so wider-
spruchsvoll wie etwa der Begriff des runden
Vierecks ist. Zum Glück steht blolj noch
die Frage des Wie zur Diskussion, weil
die des Ob durch schöpferische Akte,
Schönbergs »Pierrot Lunaire« zumal, ihre
Beantwortung gefunden hat. In dieser bizarrsten
aller Partituren, Melodramen, die Sdrönberg
zu dreimal sieben Gediditen von Albert Giraud
geschrieben — treten an die Stelle terzenmäljig
aufgebauter Akkorde Quartenharmonien, Har-
monien also, die, sich nicht „auflösen" lassen
und nach der alten Lehre ewig dissonieren.
Dessenungeachtet stellen sich bei Hörern, die
sich mit Nietzsches „drittem Ohr" (des
Musikers widttigstem) in diese Musik ein-
fühlen, Lösungsgefühle ein, die den durch Kon-
sonanzen ausgelösfen gleichwertig sind: eine
Erscheinung von größter Tragweite, die man
ignorieren und mit Berufung auf die Hand-
büdier wegdisputieren, aber nicht aus der Welt
sdraffen kann. Wenn die alten Anschauungen
auf die Moderne nicht passen — und es wäre
sdilimm, wenn sie auf sie paffen — so müssen
sie eben durch neue ersetzt werden. Es ist in
Deutschland um die musikalische Moderne spott-
schledii bestellt. Die falsche Moderne erfreut
sich des Schutzes mächtiger Gönner, die echte
wird nadi allen Regeln der Kunst drangsaliert.
Die erdrückende Mehrheit der zünftigen und
unzünftigen deutschen Beurteiler empfindet leider
in musikalischen Dingen nodr immer renaissance-
mä^ig, d. h. sie betrachtet die Tonkunst als
eine Kunst der skandierten Symmetrien. Wer
„zwischen den Künsten" zu lesen versteht, dem
wird der Gedanke nidrt phantastisch Vorkommen,
dab die klassische Sinfonie, trotz gänzlich ver-
schiedenen Stimmungsgehaltes, ein ähnlich balan-
ciertes Ganzes darstellt wie z. B. eine nadr dem
„Renaissance-Dreieck" komponierte Santa con-
versazione. Verlangt man der musikalischen
Moderne renaissancegeredrte Kontraposte ab,
so läuft das ungefähr auf dasselbe hinaus, als
ob man erwartete, daf> ein Bild von Kokoschka
den Anschauungen Winckelmanns, und Goerings
»Seeschlacht« den Regeln von Freytags »Technik
des Dramas« entspreche. So töricht eine soldre
Forderung klingt, sie wird von unseren Musik-
Winckelmanns täglidr erhoben. Man begreife
doch endlich, dalz der moderne musikalische
Stilwille auf kein Chaos, sondern auf die
Ersetzung greifbarer, allzu greifbarer und daher
abgenutzter Symmetrien durdr ungreifbare und
gleichsam sdrwebende abzielf! Das ist’s, was ein
Schönbergschüler meint, wenn er von der Musik
des Meisters sagt: „Sie hat einen Rhythmus, wie
auch das Blut seinen Rhythmus stöbt ... sie
hat eine Tonart, aber so wie das Meer eine
Tonart hat und der Sturm. Es steht immer
ein Bau da, aber wir können ihn nicht nach-
bauen in uns". Die Zeit dürfte kommen, wo
wir auch die Musik des Vaters des musikalischen
Expressionismus — der musikalische Im-
pressionismus scheint den Deutsdren nicht im
Blute zu liegen — in uns nachbauen können.
Es liegt ja in der Natur des Menschen, überall
ein dem seinen konformes Dasein unterzulegen.
Kommt Sdrönbergs Zeit nicht, so wird uns ein
Stärkerer als er die Kraft des neuen Pathos emp-
finden lassen, jenes morgenjungen Pathos, vor
dem die Dämmervögel entfleudren.
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