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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Hoeber, Fritz: Die Stuttgarter Werkbund-Tagung: kritische und hoffnungsvolle Bemerkungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0233

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Gegenteil zu befürchten: dab eine objektivierende
Ration jede schöpferisdie Phantasie —
die gewiß auch die Nußkunst unbedingt braudit
— vernidrtet. Die wissenschaftlichen Verdienste
Osfwalds um die numerisdre Fixierung unserer
Farbcnskala sind unbestritten. Für die Auf-
gaben der analysierenden Feststellung bestimmter
Buntheiten und Töne, wie sie die Kunstwissen-
schaft und die Färbetechnik z. B. braudien,
kann der Ostwaldsche Farbenatlas höchst
wesentlidie Dienste leisten. Sobald aber diese
rationalisierte Farbentonlciter audi mit dem
Ansprudi auftritt, aus sich heraus auf mathe-
matisch redmerisdiem Wege ästhetisdie „Har-
monien“ zu erzeugen, befindet sie sidi in einer
grundsäßlidien, intellektualisfisdien Selbstüber-
schätzung.-
Die heutige Kunsttheorie kennt ähnlidie irrige
Psychologismen audi auf dem Gebiete der bil-
denden und tektonisdien Künste, wo z. B. Hans
Cornelius aus der Hildebrandschen Relief-
forderung den Unsinn seiner jeder Erfahrung
und jedem Gefühl spottenden „Elementargeseße
der bildenden Kunst“ abgeleitet hat. Audi
Wilhelm Ostwalds Naturwissensdiaft verkennt
durdiaus das Wesen der farbenkünstlerischen
Harmonie insofern, als in ihr der rationale
Intellekt nur eine Komponente unter dreien
darstellt: die zweite ist das persönlidie Ge-
fühl — wie Adolf Hölzel sagt: „Farbe ist
Sadie der Höchstempfindung“ —, die dritte
Komponente aber ist der wertende Wille,
der sidi mit Individuum, Volksstamm und Ge-
sdiichte stets wandelt: Zeugnis davon kann
sein, daß beispielsweise die sogenannten Primi-
tiven, die Hochrenaissance und das Barock sidi
jede ganz andere Vorstellungen von farbiger
Harmonie ausgebildet haben, daß ferner das
europäische und das exotische, ja daß sogar in
unserer Gegenwart das impressionisfisehe
und das express! onistisdie gleichzeitige
Empfinden für polydirome Zusammenklänge
diametral von einander abweidit. Damit ist
aber jede künstlerisch-sdiöpferisdie Folgerung,
wie sie Ostwald stellen will, aus der wissen-
sdiaftlidien Festlegung seiner Farbenskala von
vornherein gegenstandslos. Nadi wie vor bedarf
jede Zeit ihrer feinfühligen Künstler, um
den Farbcnklang ihrer freien, wie auch ihrer

angewandten Kunstwerke in Harmonie mit dem
Zeitgefühl neu zu erfinden. Die Mathematik
prästabilierter Formeln bedeutet hier
jedenfalls einen psydiologischen Un-
sinn und eine kulturelle Verarmung.
Das Korreferat von Prof. Adolf Hölzel,
dem feinsinnigen Begründer der neuen Stutt-
garter Sdiule für dekorative Monumentalmalerei,
bestätigte sogleidi den eben behaupteten Ir-
rationalismus aller Farbenharmonie.
Als pädagogisdien Ausgangspunkt will Hölzel
audi die koloristisdie Skala, den Farbenkreis,
die Polarität komplementärer Töne gelten lassen.
Aber Harmonie kann soldi harte Primitivität
nodi nidit bedeuten. Hölzel sudit in seinen
eigenen Werken wie in den unter seinem Ein-
fluß entstandenen Sdiiilerarbeiten allmählidi von
den rationalen Zwei- und Dreiklängen zu immer
mehr irrationalen Farben fortzuschreiten. Mit
weldiem Erfolg, das wiesen die während des
Vortrags ausgehängten Blei- und Buntstift-
zeichnungen des Meisters, das wiesen vor allem
auch die Wandfresken der Hölzelschule in den
Pfullinger Hallen, zu denen ein Ausflug am
Schlußtag der Wcrkbundversammlung die Teil-
nehmer unter Prof. Julius Baums kundiger
Leitung hinführte. •
Es wird, wie sidi audi bei dieser Farben-
debatte gezeigt hatte, immer eine Frage sadi-
kundiger Balance bleiben, zw Indien dem Gescß-
mäßigen und dem Freischöpferischen, dem
individuellen Künstlertum und den sozialen
Forderungen unserer Zeit das richtige Mittel
zu treffen. Heute drängen sidi an den Werk-
bund vor allem die sozialen Aufgaben
heran der mannigfaltigen architektonisdien und
kunstgewerblidien Gebiete, die er musterhaft zu
lösen hat.
Da ersdieinen in erster Linie die Fragen der
Möbelversorgung und der Wohnungsbesdiaffung
für die Massen in Kleinsiedelungen, und auf diese
haben sich denn audi eine Reihe von Anträgen
geriditet: Man sdilägt vor, die künftige Werk-
bundausstellung in derForm einer M usfersiede-
lung zu veranstalten. Der Wiederaufbau der
zerstörten Gebiete soll vom Werkbund ästhe-
tisdi und kulturell organisiert werden, usw.
Man hofft, den zeitgemäßen Gedanken der
inneren Kolonisation Deutsdilands und der

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