Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0314
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Januar-Heft
DOI article:Bötticher, Hermann von: Die Gnade
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IL
In den Strafen der Stadt lag schon das Sonnenlicht in beinahe horizontalen
Strahlen; die Gassen, die in der Richtung des Sonnenunterganges verliefen,
waren angefüllt mit schwerem zitternden Licht, wogendem und doch gebanntem
Leben, während die senkrecht auf sie stoßenden Häuserreihen voll kalten
Schatten, leer und verlassen waren. Carl Horn, der nach der Durchquerung
des freien Bahnhofplabes nachdenklich aus solch einer dunklen in die von
warmer Helligkeit erfüllten trat, von diesen wiederum in eine tote, von neuem
dann in eine lebendige geriet, spürte sich bald wechselweis von Mächten er-
griffen, die er nicht kannte. Er ertappte sich plöblich dabei, dah er lautlos
und sacht eine kleine gewundene Gasse durchschritt, deren unteres Ende ein,
wie es ihm schien, nie gesehener Schein erhellte und füllte. Langsam bewegte
er sidi dem Neuen entgegen, sah scheu und so wie er es nie getan hatte,
in offene Fenster und Türen, stand stumm vor dem fremden Leben einer
weihen Kake still, die in einer niegesehenen Küche einsam hockte, während
aus demselben hüttenhaften Hause ein Mädchen in den nur vier Meter tiefen
Seitengarten trat, um, in seiner Mitte stehen bleibend, aus den tiefen Schaffen
empor durch ein kleines Bäumchen in den hellen Himmel sekundenlang zu
blicken. Und immer zögernder, fastender spürte er seine Bewegungen werden,
als er am Ausgange des Gäf>chens angelangt, mit dem Gefühle des Wunder-
baren und Seltenem in der Brust, plöblich durch den Lidifschacht der Quer-
strahe geradewegs in ein Keilerfenster und ein Kindergesichf starrte, das ernst
und aufmerksam sein Tun und Wesen und seinen Gang auf es selbst zu
umfaßte. Minutenlang stand er still, prüfend ob er nicht krank, sondern bei
Sinnen sei, und ob das Kellerfenstcr in gewölbtem Bogen, unmittelbar über
dem Fußsteig, mit dem Gitter davor und der Macht des rein befrachtenden
Gesichts dahinter Wirklichkeit in aller Unwirklichkeit sei. Und schon wollte
er mit einer ieiditfertigen Bewegung seines alten Menschen die Sadie auf die
linke Schulter nehmen und mit einem Sprung vorwärts die Nichtigkeit der
Dinge sich beweisen, als er entdeckte, dah es nicht in seiner Gewalt stand,
über den lebten trennenden Strich Licht und Leben hinweg zu dem Gesicht
im Kellerfenster durchzudringen.
Langsam, Schrift für Schritt, ging er jebt rückwärts, immer im Banne jenes
Angesichts, bis die Gasse sidi krümmte und er mit dem nächsten Schritt jäh
wieder in Schatten und Dunkelheit stand. Er drehte sich um und eilte in die
ihm bekannte Welf zurück.
III.
Mit einem Lächeln, das in seiner Wirkung einer Karussellorgel glich, schlob
wenige Stunden später im Kabarett Hölle eine Brünette ihren Breffelvortrag,
260
In den Strafen der Stadt lag schon das Sonnenlicht in beinahe horizontalen
Strahlen; die Gassen, die in der Richtung des Sonnenunterganges verliefen,
waren angefüllt mit schwerem zitternden Licht, wogendem und doch gebanntem
Leben, während die senkrecht auf sie stoßenden Häuserreihen voll kalten
Schatten, leer und verlassen waren. Carl Horn, der nach der Durchquerung
des freien Bahnhofplabes nachdenklich aus solch einer dunklen in die von
warmer Helligkeit erfüllten trat, von diesen wiederum in eine tote, von neuem
dann in eine lebendige geriet, spürte sich bald wechselweis von Mächten er-
griffen, die er nicht kannte. Er ertappte sich plöblich dabei, dah er lautlos
und sacht eine kleine gewundene Gasse durchschritt, deren unteres Ende ein,
wie es ihm schien, nie gesehener Schein erhellte und füllte. Langsam bewegte
er sidi dem Neuen entgegen, sah scheu und so wie er es nie getan hatte,
in offene Fenster und Türen, stand stumm vor dem fremden Leben einer
weihen Kake still, die in einer niegesehenen Küche einsam hockte, während
aus demselben hüttenhaften Hause ein Mädchen in den nur vier Meter tiefen
Seitengarten trat, um, in seiner Mitte stehen bleibend, aus den tiefen Schaffen
empor durch ein kleines Bäumchen in den hellen Himmel sekundenlang zu
blicken. Und immer zögernder, fastender spürte er seine Bewegungen werden,
als er am Ausgange des Gäf>chens angelangt, mit dem Gefühle des Wunder-
baren und Seltenem in der Brust, plöblich durch den Lidifschacht der Quer-
strahe geradewegs in ein Keilerfenster und ein Kindergesichf starrte, das ernst
und aufmerksam sein Tun und Wesen und seinen Gang auf es selbst zu
umfaßte. Minutenlang stand er still, prüfend ob er nicht krank, sondern bei
Sinnen sei, und ob das Kellerfenstcr in gewölbtem Bogen, unmittelbar über
dem Fußsteig, mit dem Gitter davor und der Macht des rein befrachtenden
Gesichts dahinter Wirklichkeit in aller Unwirklichkeit sei. Und schon wollte
er mit einer ieiditfertigen Bewegung seines alten Menschen die Sadie auf die
linke Schulter nehmen und mit einem Sprung vorwärts die Nichtigkeit der
Dinge sich beweisen, als er entdeckte, dah es nicht in seiner Gewalt stand,
über den lebten trennenden Strich Licht und Leben hinweg zu dem Gesicht
im Kellerfenster durchzudringen.
Langsam, Schrift für Schritt, ging er jebt rückwärts, immer im Banne jenes
Angesichts, bis die Gasse sidi krümmte und er mit dem nächsten Schritt jäh
wieder in Schatten und Dunkelheit stand. Er drehte sich um und eilte in die
ihm bekannte Welf zurück.
III.
Mit einem Lächeln, das in seiner Wirkung einer Karussellorgel glich, schlob
wenige Stunden später im Kabarett Hölle eine Brünette ihren Breffelvortrag,
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