Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0316
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Januar-Heft
DOI article:Bötticher, Hermann von: Die Gnade
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Haare und dem Einsehen des Augenglases aber entschloß er sich aufatmend,
in die Welf des Mädchens zu gehen, mit dem er über kurz oder lang sein
Leben feilen wollte.
Die kühle, von einfachen, wohltuenden Wirklichkeiten angefüllte Luft, die in
dem Hause seiner Freundin herrschte, würde ihn, so spekulierte er, zu der
beruhigenden Sicherheit seiner Person zurückbringen, die ihm sein bisheriges
Leben so erleichtert hafte.
Er blickte zu dem Fenster des ein wenig ratternden Coupes hinaus auf all
die vollen dunklen Wipfel und Gruppen von Bäumen, Wiesen, Gärten, Parks,
weiten und im Rofsfein erbauten Häuser, die sich zu beiden Seifen der Bahn-
strecke breiteten, die ihm aber zu seiner erneuten Befremdung andersartig
und heute so fern erschienen, während sie ihm doch Tage, Wochen, Monate
hindurch so selbstverständlich und vertraut gewesen waren.
Der Name seiner Station blinkte auf, er stieg aus und ging mit etwas
sdiwankendem Gange die bekannten Treppenstufen und dann die Strafe zur
Elbe hinunter.
Unterwegs nutzte er verschiedene Male vorbeigehende Damen grüßen, die oft
ohne Hut und nur im einfachen Sommerkleid die Strafe entlang kamen oder
guerfen, aus einem Parkfore trafen, um in ein gegenüberliegendes zu ver-
schwinden, alle mit dem Gehaben von Mensdren, die wissen, daß sie auf
diesem Fleck der Erde zu Hause sind.
Er spürte fröstelnd das Erkalten ihrer Gesichter, das verwunderlich schnell
dem ersten Aufleuchten des verwandtschaftlichen Gruses folgte, ohne zu merken,
dal} dieser zweite Moment im Wesen der ihm begegnenden Gestalten erst
Antwort und Rückspiegelung seines veränderten Gruses und Bewegens war.
Er wußte noch nicht, daß sein Gesicht anstatt des früheren leichtsinnig herz-
lichen Lächelns bei jedem Gruße jeßf eine Grimasse zeigte, in der die ver-
zogenen Linien der Augenwinkel und des Mundes erstarrten, weil sie nur
noch einer Gewohnheit, nicht aber mehr dem Zustand und Gefühle seines
inneren Seins entsprachen. Seine Unsicherheit wuchs wie am vorigen Tage
mit jedem Schritte mehr, und als er schließlich in die breite Einfahrt zwischen
Linden, Buchen und Fichten bog, wo es ganz still wurde, und ihm dann von
dem so hundertmal bekannten Diener, der immer eine Formel des Empfanges
für ihn bereif hatte, heute stumm wie von einem Gespensfe der Huf ab-
genommen wurde, war er ganz außer sich und in dem Leßtbekannfen auch
nicht mehr zu Hause.
Die Mutter seiner Freundin saß, als er einfraf, vor ihrem Schreibfisdi und
sah mit leicht zurückgeneigfem Kopf, einen Federhalter in der Hand, durch
das bis tief auf den Boden reichende breite Fenster über grüne Rasen ins
Freie. In einer schweren bronzenen Vase blühten Chrysanthemen weiß, stolz
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in die Welf des Mädchens zu gehen, mit dem er über kurz oder lang sein
Leben feilen wollte.
Die kühle, von einfachen, wohltuenden Wirklichkeiten angefüllte Luft, die in
dem Hause seiner Freundin herrschte, würde ihn, so spekulierte er, zu der
beruhigenden Sicherheit seiner Person zurückbringen, die ihm sein bisheriges
Leben so erleichtert hafte.
Er blickte zu dem Fenster des ein wenig ratternden Coupes hinaus auf all
die vollen dunklen Wipfel und Gruppen von Bäumen, Wiesen, Gärten, Parks,
weiten und im Rofsfein erbauten Häuser, die sich zu beiden Seifen der Bahn-
strecke breiteten, die ihm aber zu seiner erneuten Befremdung andersartig
und heute so fern erschienen, während sie ihm doch Tage, Wochen, Monate
hindurch so selbstverständlich und vertraut gewesen waren.
Der Name seiner Station blinkte auf, er stieg aus und ging mit etwas
sdiwankendem Gange die bekannten Treppenstufen und dann die Strafe zur
Elbe hinunter.
Unterwegs nutzte er verschiedene Male vorbeigehende Damen grüßen, die oft
ohne Hut und nur im einfachen Sommerkleid die Strafe entlang kamen oder
guerfen, aus einem Parkfore trafen, um in ein gegenüberliegendes zu ver-
schwinden, alle mit dem Gehaben von Mensdren, die wissen, daß sie auf
diesem Fleck der Erde zu Hause sind.
Er spürte fröstelnd das Erkalten ihrer Gesichter, das verwunderlich schnell
dem ersten Aufleuchten des verwandtschaftlichen Gruses folgte, ohne zu merken,
dal} dieser zweite Moment im Wesen der ihm begegnenden Gestalten erst
Antwort und Rückspiegelung seines veränderten Gruses und Bewegens war.
Er wußte noch nicht, daß sein Gesicht anstatt des früheren leichtsinnig herz-
lichen Lächelns bei jedem Gruße jeßf eine Grimasse zeigte, in der die ver-
zogenen Linien der Augenwinkel und des Mundes erstarrten, weil sie nur
noch einer Gewohnheit, nicht aber mehr dem Zustand und Gefühle seines
inneren Seins entsprachen. Seine Unsicherheit wuchs wie am vorigen Tage
mit jedem Schritte mehr, und als er schließlich in die breite Einfahrt zwischen
Linden, Buchen und Fichten bog, wo es ganz still wurde, und ihm dann von
dem so hundertmal bekannten Diener, der immer eine Formel des Empfanges
für ihn bereif hatte, heute stumm wie von einem Gespensfe der Huf ab-
genommen wurde, war er ganz außer sich und in dem Leßtbekannfen auch
nicht mehr zu Hause.
Die Mutter seiner Freundin saß, als er einfraf, vor ihrem Schreibfisdi und
sah mit leicht zurückgeneigfem Kopf, einen Federhalter in der Hand, durch
das bis tief auf den Boden reichende breite Fenster über grüne Rasen ins
Freie. In einer schweren bronzenen Vase blühten Chrysanthemen weiß, stolz
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