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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Mengelberg, Rudolf: Neue Bahnen: Gedanken über unsere musikalische Entwicklung
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0524

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Weitaus die Mehrzahl der Fachmusiker steht heute Mahler noch verständnis-
los gegenüber. Bezeichnend genug! Gerade die Fachbildung scheint dem
Auffassungsvermögen Grenzen zu ziehen. Die meisten Musiker sind sich über
das Wesen ihrer Kunst nidit klar, sie verwechseln die Art, die Manier des
Ausdrucks mit dem Geist. Sie suchen das Neue viel zu sehr in einer Richtung,
hierin ganz eins mit dem musikfreudigen Dilettanten. So kommt es, dab das
grobe Talent, das eine Richtung fortseht und entwickelt, vermöge einer ihm
eigenen persönlichen Note, viel eher und leichter anerkannt wird als das
Genie, das verschiedene Richtungen zusammenfafpt und etwas wesentlidr
Neues schafft. Dies Neue, Grobe mub zunächst intuitiv erfabt werden. Dar-
auf kann die kritisch-fachliche Beurteilung nur geschehen nah allgemeinen
musikalischen Gestaltungsprinzipien, nicht mit deren anderweitiger Anwendung
als Norm. Nur wer sich von dem Vorurteil einer einseitigen Bildung, die in
Wirklichkeit Verbildung ist, frei mäht, wer rein musikalisch-logisch denken
kann, wird dem Neuen gerecht.
Dasselbe gilt für das gefühlsmäbige Erfassen. Der Dilettant, der sich viel mit
Musik befabt und viel gehört hat, der sogenannte „Musikalische“, tritt an
das Neue mit zuviel Voraussehungen heran, sein Urteil ist — für ihn selbst
ganz unbeweibt — befangen. Die „Unmusikalischen“ aber (gesegnet seien sie!),
und vor allem die Jungen, fühlen die Kraft, den Geist des Neuen unmittelbar.
Und bei ihnen hat Mahler zuerst gesiegt! Bald wird er in aller Bewubtsein
leben als der grobe Symphoniker unserer Zeit. Seine Musik, volkstümlich und
innig, leidenschaftlich und erhaben, niederschmetternd und begeisternd, ist von
jener Einfachheit und inneren Klarheit, die alle grobe Kunst auszeichnet. Sie
sagt das Bedeutende einfach; und jeder, der reinen Herzens ist, versteht
diese Sprache.
Wie Bach aus dem Urgefühle der kirchlichen Gemeinschaft schuf, so Mahler
aus dem der sozialen Gemeinschaft. Wie Messe und Passion einst die gläubige
Gemeinde verband, so möge heute Mahlers Symphonie der Stern sein, unter
dem wir uns vereinen. Wer Mahler liebt, glaubt an die Zukunft!

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