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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Hollander, Walther von: Die ewige Wanderschaft: Novelle
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0609

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gewachsen mit hellen Trieben in eine Bestimmung. Grenzenlos in glückbringender
Begrenzung.
Michael; zunächst bebender Zuschauer dem mannigfachen Erwachen; belauschte voll
Liebe und Angst dieses Wachstum der beiden Menschen. Er verbarg unter gleich-
mütiger Heiterkeit den Gram; dah er lebten Endes doch vor der Tür stand; wieder
doch nur vor der Szene salj, lächelnd wohl über die zweckerhabene Heiterkeit seiner
Akteure und über ihre Entrücktheit; aber innerlich tief zerfressen von diesem An-
sichsein ohne Fragezeichen; dieser Kette ohne Ende aus Leben und wieder Leben,
Leben; um Leben zu geben.
Tief wühlte sich die Stimme seines Sohnes in sein Herz, pflügte das Brachfeld, zog
Furchen; die nach Samen riefen; grub tiefe Ausschachtungen; die nach Häusern
verlangten. Rief; rief!! Rief Tag und Nacht nach ihm; dem Trägen; dem Abseitigen;
langte; verlangte nach ihm; weckte Echo in den Höhlen; die von bleichen Gesichtern
erfüllt waren. Gab den Gesichtern Zunge und Stimme; weckte sie. Schrie! Und
das Echo; vertausendfacht aus allen Trieben ins Licht; aus dem Rausch nach
Befreiung; schlief nicht ein. Füllte die Zimmer, sprengte das Haus, ve-rfolgte Michael
über die Felder, trieb ihn gehest durch das Gebüsch, schlug ihn mit Dornen —
der Schrei: Mörder! Mörder du!! Mörder, der du erkennst und träge bist. Mör-
der, du Lichtbringer, wenn du im Dämmern hockst, Mörder, wenn deine Fackel
nichts entzündet, als kleine Hausaltäre und eine Nachtlampe am Bett deines Kin-
des, Mörder du, wenn du nicht anzündesi die Pallisaden und Bretterzäune, die
uns absperren, wenn du nichts bist, als einer von Tausenden, wenn du nichts tust,
als einen Menschen zum Leben bringen, der wieder gefangen ist, wieder abgegrenzt,
abgezirkt, gewürgt, geschändet, gebleicht! Der nicht wachsen kann, dessen Schul-
tern krumm sind, wie deine Schultern, Mörder du!! — — —
Rasend und zäh war Michaels Kampf mit den Gespenstern seines Herzens, Tag
um Tag brannten düsterer die Augen über seinen zerbissenen Lippen. Nadrt um
Nacht, Stunde um Stunde rang er, kämpfte er. Entschlossen, verbissen und doch
im Wissen um die Niederlage, Angelikas Leuchten schien nicht mehr in seine
Finsternis, Es lag als schimmernder Ring um den Kopf des Knaben, es blieb
gefangen im Lallen und Lächeln des Kindes, und wenn er tief sein zerfurchtes
Gesicht über den Sohn beugte, so wich nur der Glanz auf die Mutter zurück,
während er im Dunkeln blieb. Angelika aber streichelte erstaunt und fremd
seine Hand.
Frühling brach an unter diesen Stürmen. Sonne erhob sich wieder höher über tief
jagende schwangere Wolken, Schneeglöckchen und Krokus warben schüchtern
und vergebens um Michaels Herz. Und nach einem Abend, da der erste Star auf
der Esche pfiff, brachen die Schleusen.
Lebte Hingabe golj sich in Tränen auf Angelikas Schulter, Wenige Worte nur,
dann hatte sie ihn verstanden: „Hättest du eine Tochter mir gegeben, wieder nur

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