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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Mai-Heft
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Chapiro, Joseph: Richard Dehmel als Held seines Werkes
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0664

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„groß“. Man überseht ihn, man ladet ihn auf internationale Kongresse ein, man
zieht ihn an der Hand, die er der Welt reicht, in alle Kolloquien, alle Kongresse,
alle geistigen Unternehmungen von internationaler Bedeutung, und noch im Jahre
1914, kurz vor Kriegsausbruch, lud man ihn ein, dem nach Paris einberufenen
Kongreß „Pour mieux se comprendre“ vorzusißen. Alle Friedensfreunde fühlten,
daß Dehmel dazu berufen war, das Bindeglied zwischen Frankreich und Deutsch-
land zu sein.
W arum ?
Als Sohn eines Försters in die Stadt verpflanzt, in die moderne Stadt mit ihren
ungeheuren Steinkästen, mit ihren unüberschreitbaren bedrückenden Mauern, die
er in seinem »Freiheitslied« so verspottet hat — hat er gleich diese saugende
Kraft gefühlt, die uns umschlingt und wie eine Spinne aussaugt. Diese unge-
heure Tragödie der Stadt, die den Bauer wie ein Magnet anzieht, um ihn zu
zermalmen und zu vernichten, und die sein belgischer Bruder Verhaeren mit
seinem großartigen Pinsel malte, Dehmel hat sie gefühlt und hat sie vor ihm
beschrieben. Dehmel hat die ungeheure kapitalistische Maschine gesehen, mit
ihren Schornsteinen und ihren Rädern, die Tag und Nacht singen und sausen,
diese modernen Fabriken, wo der Mensch nur noch eine Schraube ist im gewal-
tigen Räderwerk einer Fabrik mit hundert Schornsteinen! lind der berauschende
Duft der vom Bauer verlassenen feuchten Erde, das wildharmonische Rauschen
der ungeheuren, im Winde schaukelnden Tannen und die Erinnerungen aus
Kinderzeit und Familie haben seiner Brust einen seiner schmerzlichsten Ausrufe
entrungen:
„Ja, die Großstadt macht klein.
Ich sehe mit erstickter Sehnsucht
Durch tausend Menschendünste zur Sonne auf;
Und selbst mein Vater, der sich zwischen den Riesen
Seines Kiefern- und Eichen-Forstes
Wie ein Zaubermeisfer ausnimmf,
Ist zwischen diesen prahlenden Mauern
Nur ein verbauertes altes Männchen.
O laßt euch rühren, ihr Tausende!“
„Ihr freilich, ihr habt Füße und Fäuste,
Euch braucht kein Forstmann erst Raum zu schaffen,
Ihr steht und schafft euch Zuchthausmauern —
So geht doch, schafft euch Land! Land! Rührt euch!
Vorwärts! rückt aus! — “


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