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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Mai-Heft
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Mersmann, Hans: Musikalischer Bolschewismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0698

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gewaltsamen Stilneuerungen der lebten Vergangenheit als Futurismus bezeichnet,
um allen ehrbaren Leuten ihre Gefährlichkeit möglichst gleich von au^en kenntlidr
zu machen* Aber das hat wohl nicht genügt, denn auch dieser Begriff hat all-
mählich seine Schrecken verloren. Und da ging man zu einer neuen Methode über:
man brandmarkte die jüngste Kunstentwicklung durch das Schlagwort musi-
kalischer Bolschewismus*
Das wirkte. Jetzt mußten ja alle Einsichtigen einen großen Bogen um eine als
bolschewistisch verdächtigte Kunst machen. Denn wer wollte mit diesem Gespenst
irgend etwas zu tun haben? Sie wurden durch unverständige Führer darin bestärkt,
bei allem, was sie nicht verstanden, zu zischen oder es zu boykottieren. Sie sahen
in der Stilentwicklung eine Volksgefahr, die sie bekämpfen, ablehnen, mindestens
aber ignorieren zu müssen meinten. Und die, welche vorher am lärmendsten für
das Deutschtum in der Musik eingetreten waren, erhoben jeist notwendigerweise
am lautesten ihre Stimmen gegen die Umsturzgefahr.
Bolschewismus ist mehr als Schlagwort: ist Methode. Diejenigen, welche das Wort
auf das Musikalische umprägten, muhten sich der Bedeutung dieser Methode
bewuht sein. Sie waren offenbar nicht fähig, die neue Entwicklung mit aus-
reichenden musikalischen Gegengründen zu bekämpfen und wählten daher eine
Verschiebung der Basis. Sie deuteten den musikalischen Gegensatz in einen
nationalen um und nannten die ältere Richtung, weicher sie selbst angehörten,
deutsch und die neuere, welche sie bekämpften, bolschewistisch. Dadurch erreichten
sie, dah das Empfinden der Geführten unmerklich vom Musikalischen ins Natio-
nale hinüberglitt und die krankhaft überreizten und empfindlidien Nerven eines
Volkes, welches sich dem Begriff des Bolschewismus täglich von neuem in irgend
einer Form gegenüber sah, bereitwillig reagierten. Sie selber aber hüllten sich
dadurch in den billigen Ruhm, Hüter einer nationalen Kunst zu sein. Diese
traurige Methode, für welche leider einer unserer schätzenswertesten schaffenden
Künstler verantwortlich ist, hat mittlerweile auch auf die Kritik übergegriffen und
aus den angegebenen Gründen bei der großen Masse des Publikums Boden
gefunden. Daher erscheint es nötig, auf das Bedenkiidie dieser Unterstellung
einmal mit Nachdruck aufmerksam zu machen.


Das genügt freilich nicht. Es muh auch nach den inneren Gründen einer solchen
Anschauung gefragt werden. Ist der Vergleidi ganz aus der Luft gegriffen oder
entspricht die künstlerische Entwicklung im Kerne ihres Wesens der kulturpoli-
tischen? Wie weit ist die musikalische Entwicklung der Gegenwart über sich selbst

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