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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Bagier, Guido: Gustav Mahler: Amsterdamer Ergebnisse
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0846

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Aufführung sämtlicher Beethovenscher Sinfonien oder Quartette, Mozartspiele,
Regersche Zirkel, — bei Mahler allein ist es möglich, ein vollständig geschlossenes
Bild zu geben, da dieser Mann mit sinfonischer Form anfing und schloß, da seine
Lieder nur Vorstudien zu jener sind, da er, der musikalisch die Konzentration über
alles liebte, sie als Schaffender zum harten Dogma erhob.
über eine solche Einseitigkeit zu schreiben, könnte man meinen, sei ein leichter
Genuß und angenehme ästhetische Unterhaltung. Die Tat belehrt eines anderen:
während Richard Strauß klare Linie ermöglicht, während Reger und Pfißner in
harmonischen, lauteren Farben glänzen, verwirrt Mahler mehr und mehr den
Betrachtenden, gibt er, scheinbar einfach beginnend, Rätsel auf Rätsel auf und
spottet gedanklicher Analyse, wie er im Leben sich selbst, seine Umgebung, die
ganze Welt ironisierte. So bildeten sich um ihn, der vor neun Jahren starb, bereits
literarische Legenden heinischer Richtung, so rollen Flüche gegeneinander, wo
Liebe gesucht ward, finden sich Herzen, die im Haß zu ersticken meinten.
Ich bezweifle, ob dem Toten ein Dienst erwiesen wurde, daß bisher ohne Ausnahme
soldie über ihn schrieben, die ihn persönlich kannten und seinen Neigungen
nahestanden. Ich glaube, dal} unbewußt alle diese, den einen, klugen Paul Stefan
nicht ausgenommen, sich von dem faszinierenden Wollen und dem hinreißenden
Temperament des Komponisten beeinflussen ließen. Im Falle Wagner erlebte man
ähnliches, nur daß dieser im Glanze europäischen Ruhmes die Weit verließ,
während Mahler leidvoll und apostelbedürftig in die Grube fuhr. Dazu kommt,
daß der Wiener rastlosen Gemütes ungleich heftiger in der Kraft der Mannesjahre
anzog und abstieß, so daß, wer einmal seinem Bann verfiel, nach restloser Hin-
gabe verlangte. Diese Ekstasen waren die notwendige Folge unglaublicher
Gehässigkeiten der anderen Seite, die, oft genug berichtet, Gemeingut der
trauernden Nachkommen wurden.
Wir leben in einer Zeit musikalischer Atempause, wie sie die Geschichte nur
zwischen Bachs Tode und der ersten kräftigen Einwirkung Mozarts kennt. Das
Alte ist nicht mehr, das Neue noch nicht, ein Zustand, den die Tonkunst mit
Malerei und Literatur teilt, obwohl auf jenen Gebieten sichtlich stärkere Kräfte
am Werke sind, wahrhafte Gegenwart zu bilden. Die Musiker, eine Genossen-
schaft für sich, machen diese bewußte Entwicklung nicht mit. Es widerstrebt ihnen,
die meist der Forderung des Tages leben, in großen Zusammenhängen zu denken,
sich durch Dinge beunruhigen zu lassen, die doch nach mystischem Naturgeseß
eine geheimnisvoll vorgeschriebene Bahn laufen müssen. Sie entbehren grund-
säßlich jeder historischen Einstellung, wenn sie praktisch tätig sind, und die
zünftigen Historiker wenden sich entseßt von den problematischen Drohungen der
Zeitgenossen fort zu den beruhigenden Akten zierlicher Neumen, kräftiger Mensural-
notierung oder neuerer, das heißt bis zum achtzehnten Jahrhundert reichender, text-

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