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Heidelberger Zeitung — 1898 (Juli bis Dezember)

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Nr. 203 - 228 (1. September 1898 - 30. September 1898)
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https://doi.org/10.11588/diglit.42070#0277

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^Vhon-Anschluß Nr. 82.

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Telephon-Anschluß Nr. 82.

Sir. 215

1)

Hur Ermordung der Kaiserin von Oesterreich.
Genf, 14. Sept. Nach den erforderlichen Cereinonien
Mrde der Todtenschcin der Kaiserin gestern um 3 Uhr Nach-
AEags von General Berzcviczy und dem Staatsrath von
^nf und Standesbeamten Jules Renaud ausgestellt und
überzeichnet. Oben am Sarge der Kaiserin befinden sich
in Blei gefaßte Glasfenster, die verschiebbar sind.
Wn den mit schwarzem Tuch umhüllten Schlüsseln erhielt
^en der Guardian, den zweiten der Ordner des Leichen-
begängnisses. Um 4 Uhr erschien Monsignore du Ruez,
in Freiburg residirende Bischof von Lausanne-Genf,
an der Leiche ein Gebet zu verrichten. Die sich an-
Wießende religiöse Feier fand nach 5 Uhr im engsten
^eise statt. Die ganze Cercmonie dauerte 20 Minuten,
.^er Bischof und der Pfarrgeistliche der Pfarrei Paques
'kneten den Sarg ein. Die meisten Konsuln kamen und
Achten den Vertretern des Kaisers ihren Besuch. Die
Überführung der Leiche zum Bahnhof war in ihrer Ein-
^chheit von gewaltiger Wirkung. Die ganze Bevölkerung
bahnt an der Feier thcil. Ungeheuere Menschenmengen
Mten nicht nur die Straßen, sondern auch den Mont-
Manc-Staden, die Montblanc-Brücken und die Rousseau-
esel. Auf der Kathedrale wehte die Genfer Fahne auf
^lbmast; fast alle Häuser, öffentliche und private Ge-
aude, hatten trauerumflorte Fahnen ausgchängt. Alle
Wden und Magazine in den Straßen, durch die der Zug
waren geschlossen. Der Platz vor dem Bahnhof war
Eng abgcsperrt; das Feuerwehrkorps besorgte den Ord-
nungsdienst. Die Menge bewahrte in allem eine würdige,
uwsterhafte Haltung. Um 8 Uhr heute früh setzte sich unter
Geläute der Kirchenglocken der Trauerzug in Bewegung.
Wu eröffnete eine Gendarmericabtheilung in Gala, dann
'nlgte der Sarg, gezogen von vier mit schwarzen, silber-
Unirandeten Decken geschmückten Pferden. Auch der Leichen-
cm war schwarz verhängt und trug an den Ecken weiße
Aib schwarze Federbüsche. Er war über und über mit
«lumen und Kränzen bedeckt. Ihm folgten zwei andere
?Lugen, die ebenfalls Blumen- und Kranzspenden trugen,
»Nn die Wagen mit dem Gefolge der Kaiserin, diesen
^ue zweite Gendarmerieabtheilung und dieser die Mitglieder
bs Bnndesrathes und des Genfer Staatsrathes. Eine
W^e Abtheilung Gendarmerie schloß den Zug, der 20
Wgen, darunter 12 amtliche, zählte. Langsam und feier-
1.4 bewegte er sich durch die dicht geschaarte Volksmenge,
bei seinem Vorbeiziehen die Häupter entblößte.
Als der Wagen mit der Leiche der Kaiserin vor der
^üulenhalle des Bahnhofs hielt, erwiesen die Abtheilungen
E Gendarmerie und der Feuerwehr Ehrenbezeugungen.
Aer Hofstaat der Kaiserin stellte sich am Eingang des
Bahnhofes nach den Geleisen zu auf. Hier wurde der
Eschengeschnitzte Sarg, den ein silberner von der Kaiserkrone
überragter Schild zierte, von zwei Geistlichen empfangen,
langsam geleiteten sie die Bahre zum Zuge; ihnen schloß
bch der Hofstaat der Kaiserin, die Mitglieder des Bundes-
'"chs und der Cantonregierung an. Huissiers mit trauer-
corten Stäben folgten. Sonst wurde Niemand zu-
fassen. Der Sarg wurde in den Trauerwagen gehoben
""b viele der prachtvollen Kränze und Blumenspenden
W der Bahre niedergelegt. Die anderen Kränze wurden
dem folgenden Wagen aufbewahrt. Nachdem die
Eilenden Geistlichen die Leiche nochmals eingesegnct
batten, nahm der Hofstaat der verewigten Kaiserin allein
den vier weiteren Wagen Platz und langsam und laut-
W- ohne daß der Pfiff der Lokomotive ertönte, setzte sich
Zug in Bewegung.
14. Sept. Während der Fahrt des Kaiser-

Mem Ludchen.
Erzählung von F. Arnefeldt.
(Nachdruck verboten.)
s, fus dem Balkon des unweit der Leuchtenburg im ge-
KUUEten Thüringer Lande auf einer mäßigen Höbe gelegenen
Klößchens Wildenstein stand eine stattliche, dunkelgekleidete
^andschNft ^aute aufmerksam in die sich vor ihr ausbreitende
A°^,rchben, den Horizont abschneidend, ragte im blauen
-,c>dust, wie mit einem halbdurchsichtigen Purpurmantel
a^EUeckt' ein Gebirgszug; etwas mehr nach dem Vorder-
d-""oe schoben sich bewaldete Hügel; im Abendglanze blinkte
W das Thal in Windungen durchziehende Fluß, mit Brücken
Wannt, von Booten und Kähnen belebt; dunkles Gebüsch
ab mit hellgrünen Wiesen, gelben Getreidefeldern
O "Wen rothen Dächern der verstreut liegenden Dörfer und
sWwaften. Ganz nahe an Schloß Wildenstein lagen in
""uarzen Linien die Schienen der Eisenbahn.
znWau Bürgermeister Mühlenbruch wohnte erst seit einigen
v„ "En auf Schloß Wildenstein, und die Aussicht, die sie
bellst >k.on, wie aus den Fenstern genoß, erfüllte ihre schön-
xs Wurstige Seele stets mit neuem Entzücken; trotzdem war
Di ^ute nicht diese, was sie auf den Balkon gelockt hatte.
sti-Wand zum Schutze gegen die Sonne über die noch recht
Uhd klar in die Welt schauenden braunen Augen gelegt,
sie den sich in einer Serpentine zum Schloß hinauf-
ulenden Weg entlang.
WinsFreudenschein flog über ihr Gesicht, grüßend und
ein BE^b sie die Hand- Auf kräftigen Braunen trabte
gemächlich die Höhe hinan. Nun hatte er die
r>EUde auch erblickt und schwenkte den Hut.
sckn-n " Mühlenbruch verschwand vom Balkon und ging mit
W';M, elastischen Schritt in das Innere des Hauses.
Minuten später traf sie im Wohnzimmer mit ihrem
knW zusammen, der im Schloßhof sein Pferd dem Reit-
"il übergeben, Hut und Reitgerte im Vorzimmer gelassen

Arnnerstas, den 15. L'txlmlm

zuges fanden fortgesetzt theilnehmende Kund-
gebungen statt. In Lausanne, wo der Zug eine Viertel-
stunde Aufenthalt hatte, war der Bahnhof geräumt. Die
Cantons- und Stadtbehörden hatten sich zur Begrüßung
der sterblichen Hülle des edlen Opfers eingefunden. Alle
Glocken ertönten. In Freiburg war der Empfang ähnlich.
Die Glocke der Kathedrale St. Nicolas läutete noch eine
Viertelstnnde nach der Abfahrt des Zuges. In Bern traf
der Zug kurz vor 1 Uhr ein. Der Bahnhof war gleich-
falls geräumt, nur die Behörden und die Vertreter der in
Bern beglaubigten Staaten hatten sich eingefunden. Die
österreichische Colonie in Bern legre einen Kranz nieder.
Bei der Abfahrt des Zuges erklangen alle Glocken der
Bundesstadt.
Bern, 14. Sept. Luccheni wird wahrscheinlich
am 4. October in einer außerordentlichen Schwurgerichts-
session abgeurthcilt werden. Der Mörder hat dem Unter-
suchungsrichter gegenüber geäußert, wenn er sich in Italien
befunden hätte, würde er König Humbert ermordet haben.
Gestern wurden in Genf fünf Anarchisten verhaftet, die
der Mitschuld an dem Verbrechen Lucchenis verdächtig
sind. Die schweizerische Presse stellt fest, daß ein Vorwurf
das Land nicht treffen könne und daß anderwärts Atten-
tate, trotz besonderer Vorsichtsmaßregeln, vorgekommen
seien. Viele Blätter aber erklären, die lieberwachung
der anarchistischen Bande müsse bei uns strenger
werden. Von der seit einiger Zeit von den Socialisten
verlangten Abschaffung (!) der politischen Polizei könne gar
keine Rede sein. Die Neue Züricher Ztg. schreibt: Das
Schweizervolk erwarte die Anwendung der größten Energie,
um das Land von der Verbrecherbande zu säubern, und
werde die nöthigen Mittel hierzu bereitwilligst geben. Be-
sonderer Gesetze bedürfe cs nicht, die scharfe Anwendung
der bestehenden genüge; nur fester Wille bei den eid-
genössischen Behörden und keine Rücksicht mehr auf kan-
tonale Schwachheiten.
Wien, 13. Sept. Heute fand in der Hofburg die
Feststellung der Trauerfeierlichkeiten statt. Kaiser
Franz Joseph hat sich für eine große Leichenfeier zur
letzten Ehrung der Verschiedenen entschlossen. Die Neue
Freie Presse meldet, daß aus Wunsch des Kaisers die
Kaiserin Elisabeth an der Seite des Kronprinzen Rudolf
ihre letzte Ruhestätte finden wird. Da aber vor-
läufig neben dem Sarkophage des Kronprinzen der des
Erzherzogs Karl Ludwig steht und dieser daher erst ent-
fernt werden muß, wird die Beisetzung der Kaiserin jetzt
nur vorläufig sein. Am Samstag früh erhielt der Kaiser
den letzten Brief von der Hand der Kaiserin. Sie schrieb,
daß sie sich äußerst wohl fühle und glücklich über den
günstigen Erfolg der Nauheimer Kur sei. Sie fühle sich
so kräftig, daß sie bereits wieder kleine Wanderungen ohne
irgend welche Ermüdung machen könne. Auch drückte sich
die Kaiserin ganz entzückt über den Aufenthalt am Genfer
See aus.

Wochenchronik.
(Vom 4. bis zum 10. Sept.)
4. Sept. In englischen Blättern wird viel von deutsch-
englischen Abmachungen gesprochen; einige er-
zählen sogar von einer Art Schutz- und Trutzbünduiß.
In Wirklichkeit scheint es sich um Abmachungen zu
handeln, die sich im Wesentlichen auf Afrika beziehen.
4. „ General Kitchener meldet aus dem Sudan, daß er mit
seiner englisch-egyptischen Armee den Mahdi bis zur
Vernichtung geschlagen und Omdurman und Char-
tum eingenommen habe. Der Mahdi sei geflohen.
5. „ Die Königin Wilhelmine von Holland
hält ihren feierlichen Einzug in Amsterdam.
5. „ General zur Linden übernimmt das französische
Kriegsmini st ertum.

hatte und nun mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen
zu ihr cintrat.
„Verzeihe Mütterchen, daß ich zu Dir komme, wie ich
vom Pferde gestiegen bin," redete er sie mit einer sehr wohl-
klingenden Stimme an, „da Du meiner auf dem Balkon
wartetest, glaubte ich. Du habest große Sehnsucht nach mir,
und wollte sie ungesäumt stillen."
„Wie eingebildet!" rief die Mutter, auf den Scherz ein-
gehend, und hob drohend den Finger, strich aber sogleich lieb-
kosend mit der schlanken, weißen Hand über das hübsche, in-
telligente und ihr sehr ähnliche Gesicht des gut gewachsenen
etwa achtundzwanzigjährigen Mannes. „Als ob es hier gar-
nichts weiter zu sehen gäbe, als den Herrn Dr. Ernst Mühlen-
bruch," fügte sie hinzu.
„Ganz recht; die Aussicht von Wildenstein ist köstlich, und
wir beide können uns nicht satt daran schauen," nickte Ernst
Mühlenbruch, „nur waren Deine Augen nicht auf das Land-
schaftsbild, sondern auf den Weg, den ich kommen mußte, ge-
richtet."
„Das willst Du von unten entdeckt haben?"
„Ganz gewiß."
„Nun sei es darum!" lächelte die Frau Bürgermeister, „ja
ich wartete auf Dich, aber eitel brauchst Du deshalb nicht zu
werden, es geschah, weil ich einen seltsamen Brief erhalten
habe, über den ick mit Dir sprechen möchte."
„Einen Brief? Von wem?" fragte der junge Doktor, der
sich inzwischen auf einen der mit Sitzen aus Rohrgeflecht ver-
sehenen Stühle aus tief nachgedunkeltem Mahagoni nieder-
gelassen und die mit Stulpenstiefeln bedeckten Füße ein wenig
.vorgeftreckt hatte.
„Von einer mir ganz unbekannten Frau," erwiderte Frau
Mühlenbruch, die ebenfalls Platz genommen hatte, „und der
Brief ist auch gar nicht an mich gerichtet."
„Aber, wie konntest Du ibn denn annehmen, erbrechen
und lesen?" fragte der Sohn, in dem sofort der Jurist er-
wachte.
„Weil er meine Adresse trug. An Frau Mühlenbruch auf

1898.

6. Sept. In Kandia auf Kreta schlagen die in der Statst
internirten und notblcidenden Muselmanen gegen die
Engländer, die den Ort besetzt halten, los, als die Eng-
länder, einem Beschluß der Admirale entsprechend, sich
der türkischen Zollverwaltung bemächtigen. Das in
Kandia noch garnisonirende türkische Militär sieht dem
Kravall ruhig zu. Die Stadt wird von den Eng-
ländern bombardirt und die Unruhe gedämpft.
6. „ Bei einem Festmahl in Oeynhausen, anläßlich der
Manöver in Westfalen, kündigt der Kaiser ver-
stärkten Schutz für den willigen Arbeiter an. „Wer
zum Streik anreizt, soll mit Zuchthaus bestraft
werden."
7. „ Bei der Festtafel in Porta führt der Kaiser aus,
daß der Frieden nicht besser gewährleistet werden
kann, als durch ein schlagfertiges und kampfbereites
Heer.
8. „ L i - H u n g - C h a n g, der bekannte chinesische Staats-
mann, ist wieder einmal abgesetzt worden.
9. „ Prinz Max von Baden verlobt sich in
Zarskoje Selo mit der Großfürstin Helene Wladi-
mirowna.
10. „ Die Kaiserin vonOe st erreich wird in Genf
von einem italienischen Anarchisten Namens
Luccheni erstochen.

Deutsches Reich.
Berlin, 14. September.
— Aus Konstantinopel schreibt man der Magdeb.
Ztg.: Der Palast, den der Sultan auf dem Hügel von
Mdiz für den deutschen Kaiser errichten läßt, ist
nahezu fertiggestellt. Nur noch Maler und Tapezierer sind
in den Zimmern beschäftigt. Wie der Bau selber von
einem italienischen Architekten, dem Professor Aronco, ge-
leitet wurde, so hat der Sultan auch die künstlerische Aus-
schmückung des Palastes zwei Italienern, dem Professor
Toccato und Kavaliere Roncati, anvertraut. Der Sultan
und seine künstlerischen Beiräthe haben in den 6 Monaten,
die für den Bau zur Verfügung standen, Wunderdinge ge-
leistet. Der Hügel von Mdiz ist in ein Paradies ver-
wandelt worden, und der Palast selbst könnte für einen
Prinzen aus der Märchenwelt von Tausend und einer Nacht
nicht herrlicher hergerichtet sein. Bloß für die Decora-
tionsarbeiten in dem Palaste wurden 1*/, Millionen Frcs.
aufgewendet. Die Möbel hat man aus Deutschland be-
zogen, alle Stoffe, Teppiche und gewirkten Tapeten stam-
men dagegen aus der kaiserlich türkischen Fabrik von En-
rek her. Der Palast ist architektonisch und seiner Aus-
stattung nach in persischem Stil gehalten. Man rechnet
in Konstantinopel darauf, daß Kaiser Wilhelm 10 bis 12
Tage als Gast des Sultans am Goldenen Horn verweilen
werde. (Andere Mittheilungen sprechen von 6 Tagen.)
— Ucber den Umsatz, den die größeren Waaren-
häuser der Welt haben, bringen die Conrad'schen Jahr-
bücher für 1888/89 folgende Zahlen:
Bon Marche (Paris) 134 Millionen Franken
Louvre (Paris) 130 „ „
6 englische Waarenhäuser 120 „ „
Marshall a Meld (Chicago) 63 „ „
Steward (Newyork) 54 „ „
Ridley (Newyork) 38 „ „
In Deutschland hat das Waarenhaus für deutsche Be-
amte 1893 einen Jahresumsatz von 5,4 Millionen gehabt.
Die größeren Waarenhäuser in Deutschland erreichen noch
nicht einen Jahresumsatz von 20 Millionen.
Preußen. Spandau, 14. Sept. Der hier ausge-
brochene Maurerstreik artete nach den Berliner Abend-
blättern in Ausschreitungen aus, die sich besonders gegen
die italienischen Arbeiter richteten. In vergangener Nacht
wurde ein Zollschuppen, in dem etwa 30 italienische Ar-
beiter untergebracht waren, von streikenden Maurern ange-
zündet. Die Italiener, die entkamen, schossen wiederholt,

Wildenstein bei Kahla. Kennst Du außer mir jemand, der
Anspruch auf diese Bezeichnung zu machen hätte?"
„Da ich mich nicht ohne Dein Vorwissen verheirathet habe,
Mütterchen, wüßte ich allerdings niemand," scherzte Ernst.
„Aber es hat jemand gegeben!" In Frau Mühlenbruchs
Stimme zitterte eine leise Webmuth, ihr hübsches Matronen-
gesicht hatte einen Ausdruck sanfter Trauer, und der Sohn rief:
„Der Brief war an Tante Bertha gerichtet!"
Die Frau Bürgermeister neigte bejahend den Kopf. „Er
ist an Tante Bertha und die Schreiberin hat keine Ahnung
von den Veränderungen, die sich hier zugetragen haben, sie
scheint überhaupt nur recht oberflächlich mit der Tante be-
kannt gewesen zu sein."
„Aber was will sie?"
„Das wirst Du am besten erfahren, wenn ich Dir den
Brief vorlese."
Frau Mühlenbruch ging an einen Schreibsekretär mit
vielen Fächern, gedrehten Säulen und einem Spiegelaufsatz,
öffnete die Klappe und nahm einen Brief heraus, den sie
entfaltete und, mit dem Rücken gegen den Sekretär gelehnt
stehend, dem Sohn vorlas:
„Hochgeehrte, gnädige Frau!
Viele Jahre sind vergangen, seit ich die Ehre und das
Glück hatte, mit Ihnen in Bad Liebenstein zusammenzu-
treffen, wo unsere Kinder so vergnügt mit einander spielten.
Wir haben seitdem nichts von einander gehört und Sie
und Ihr Herr Sohn werden mich und mein Ludchen ge-
wiß ganz vergessen haben. Wir gedachten Ihrer viel, wenn
ich auch mir nicht erlaubte, an Sie zu schreiben. Heute
thue ich es und möchte eine große, innige Bitte an Sie
richten. Sie sagten mir einmal, ich dürfe es thun, be-
sonders wenn ich für Ludchen etwas wünsche. Das ist jetzt
der Fall. Das arme Kind hat sehr angestrengt für das
Examen arbeiten müssen. Das ist nun zwar glänzend be-
standen, ehe aber weiter gearbeitet wird, thäte eine Er-
holung in guter Luft bei guter Kost so dringend noch.
Und aus eigenen Mitteln kann ich das nicht beschaffen.
Woher sollte eine arme Lehrerswittwe das nehmen? Ludchen
 
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