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Heidelberger Zeitung — 1898 (Juli bis Dezember)

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Nr. 203 - 228 (1. September 1898 - 30. September 1898)
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https://doi.org/10.11588/diglit.42070#0235

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2 Erscheint täglich,
sonntags ausgenommen.
Preis
mit Familienblättern
, monatlich 50 Pf.
irei in's Haus gebracht.
^nrch die Post bezogen
vierteljährl. 1.25 X.
^'sickließlich Zustellgebühr.
^Phon-Anschluß Nr. 82.
Sir. 2V5.


Jnsertionsgebühr
15 Pf. für die Ispaltig«
Prtitzei'.e oder deren Raum.
Für hiesige Geschäfts- und
Privatanzeigen bedeutend
ermäßigt.
Gratis-Anschlag
der Inserate auf den Plakat-
tafeln der Heidelb. Zeitung
und den Plakatsäulen.

_Telephon-Anschluß Nr. 82.
Elftes KM. Smstsg, de« 3. September 18S8.

Bestellungen
Ai die Heidelberger Zeitung für den Monat September
Werden bei allen Postanstalten, den Briefträgern, den
Amten, bei den Trägern in der Stadt, sowie in der
Spedition, Untere Neckarstraße Nr. 21, angenommen.
Bezugspreis: monatlich nur 50 Pfg., frei in's Haus
Fracht; durch die Post bezogen für den Monat
September, wenn am Schalter abgeholt, 42 Pfg., für
Estellgebühr 15 Pfg. mehr._
Zum Abrüstungsvorschlag des Zaren
. Es gibt Leute, die behaupten, der Zar habe seinen
Müstungsvorschlag nur gemacht, um Zwietracht unter
A Mächte zu säen. So wenig wir seinen Vorschlag
Obigen und so entschieden wir gegen jede Abrüstung
brotestiren, so wenig glauben wir jedoch an eine tückische
Asicht des Zaren. Wir nehmen an, daß er seinen Vor-
tag in der besten Meinung gemacht und die Folgen
Melden sich anders ausgemalt hat, als sie sich nun heraus-
allen. Eine der ersten Folgen ist die, daß das französisch-
^ssische Bündniß einen sehr starken Stoß erlitten hat,
As doch dem Zaren selber unangenehm sein muß. Es
A, ja wahr, daß Rußland das französische Bündniß augen-
. Aich nicht sehr nöthig hat; auch weiß man in Rußland
Ar wohl, daß die Franzosen nur deshalb so gierig nach
dem russischen Bündniß waren, weil sie von demselben
Revanche für 1870/71 erhofften. Hätte Graf Caprivi
">cht den unglaublichen Fehler begangen, Rußland den
Oheimen Bündnißvertrag zu kündigen, so wäre cs Ruß-
nnd nie eingefallen, mit Frankreich sich einzulassen. Nachdem
Ar die Kündigung erfolgt war, blieb Rußland nichts Anderes
Wig, als sich nach einer neuen Freundschaft umzusehen.
lebt doch nicht bloß heute und morgen; man muß
Ach an die Zukunft denken, die immer unsicher ist und
Überraschungen bringen kann. Soll eine Freundschaft
"ch im Ernstfall bewähren, so muß sie lange und sorg-
Wg gepflegt sein. Daher also das russisch-französische
^ündniß, das ja allerdings insofern unnatürlich ist, als
° im russischen Sinne ein Friedens-, im französischen ein
riegsbüudniß vorstcllt.
^Gerade weil Frankreich auf das Bündniß mit Ruß-
, kriegerische Hoffnungen setzte, hat der Abrüstungs-
Abschlag des Zaren den Werth dieses Bündnisses in den
, ^ugen der Franzosen sehr herabgesetzt.
A .Das ist für Rußland ein direkter Mißerfolg des
duschen Vorschlags.
, Sodann hat der Vorschlag in Frankreich eine so leb-
, Aüe und scharfe Erörterung des Revanchegedankens her-
Argerufen, wie man sie seit Jahren nicht erlebt hat;
"sofern ist die Wirkung des Vorschlags durchaus keine besänfti-
^üoe, friedenfördernde. Frankreich ist förmlich genöthigt
.Asden, sich mit dem Revanchegedanken öffentlich zu be-
lAftigen. Im Gäulois schreibt der ehemalige Kriegs-
"uster unter Mac Mahon, General du Barail:
Sem i ? wirkliche Abrüstung scheint mir bei der heutigen all-
sstA, " Lage unmöglich, und ich wünsche sie auch nicht für
dAMich. Dem Kriege entsagen, das hieße ungefähr so viel,
Sech Vaterlande entsagen. Wir können nicht die uns an-
died ? Schmach vergessen. Allerdings, wenn man diese Schmach
ieb? - gut machte, so wäre das eine andere Sache. Aber ich
daß davon die Rede ist. Uebrtgens hängt alles von
dA, Wand ab. Es fragt sich, ob Deutschland der Billigkeit und
ßj» Achte die gewaltsamen Eroberungen opfern will; ob es
de»,.Hatkraft lieber der Civilisation neuer Conkinente, als dem
HyWnoten Frieden widmen will. Wilhelm II. allein hat die
"cht, .das entscheidende Wort zu sprechen; denn Frankreich
Vortl?,A eine ehrenvolle Abrüstung gutheißen; sonst ist es unser
teick- ' Zustand der Dinge aufrecht zu erhalte», da wir die
tz^en^stnd. Auf der Konferenz wird man wahrscheinlich vor-

I schlagen, den Effektivbestand der Armeen zu mindern, die Reserve
zu vermehren. Im Grunde käme dabei nichts heraus; aber die-
jenigen, die die Sache am aufrichtigsten auffaßten, würden die
hinters Licht Geführten sein.
So wie General du Barail spricht, so denkt und redet
ganz Frankreich. Wenn also die Abrüstungskonferenz zu-
stande kommen und ernstlich an die Arbeit gehen sollte,
so ist zu befürchten, daß eine Discussion des Frankfurter
Friedens versucht wird, wogegen wiederum Deutschland
sich aufs ernsteste und entschiedenste verwahren müßte.
Aus London wird von angeblich gut unterrich-
teter Seite mitgetheilt, daß häufige Besprechungen zwischen
Balfour und dem Grafen Hatzfeld stattfinden und daß
dieselben mit dem Wunsche des deutschen Kaisers in Ver-
bindung stehen werden, über die englische Aufnahme
des russischen Vorschlags unterrichtet zu sein. Die
Antwort Balfours sei zurückhaltend, aber doch hinlänglich
bestimmt mit Bezug auf die Nothwendigkeit gewesen, daß
vor der Annahme einer internationalen Konferenz ihre
Zwecke und ihre Begründung der Zustimmung der
Mächte unterbreitet würden. Wenn vom englischen Aus-
wärtigen Amt günstige Antwort erwartet werde, müsse die
Gewährleistung gegeben werden, daß keine der Fragen,
die jetzt zwischen den Mächten strittig seien, der Entscheidung
der Friedenskonferenz unterbreitet würden.
Also auch England will von den Vorschlag des Zaren
nicht viel wissen. Es verlangt Vorverhandlungen, damit
keine streitigen Fragen vor den Friedenskongreß ge-
bracht werden. England hat ganz recht. Es darf — so
seltsam es klingt — vor den Friedenskongreß nichts
Streitiges gebracht werden, damit kein Streit entsteht. Viel-
leicht gelingt es, den gefährlichen Vorschlag des Zaren in
den Vorverhandlungen zu ersticken!

Deutsches Reich.
Berlin, 2. September.
— Im Auftrage des Reichsamts des Innern hat sich
Professor Dr. Röhricht vom Kaiserlichen Gesundheits-
amte nach Steiermark begeben, um die durch den Hopfen-
käfer verursachten Beschädigungen wissenschaftlich festzu-
stellen. Das Ergebniß dieser Reise wird demnächst in
Wandtafelform mit zahlreichen Abbildungen und kurzem
erläuternden Text veröffentlicht werden, eine größere
wissenschaftliche Arbeit über den Gegenstand dagegen später
nachfolgen. Aehnliche Wandtafeln sind bereits über die
Bies- und Frit-Fliege, die Nonne u. s. w. erschienen.
Die Veröffentlichung dürfte für die Interessenten des
Hopfenbaues von wesentlichem Werthe sein.
— Nachdem der Friedenszustand wieder hergestellt,
wurde die Verminderung der vor Manila liegenden
deutschen Seemacht auf ein oder zwei Schiffe ange-
ordnet, welche genügen werden, bis zur völligen Wieder-
herstellung der Ordnung auf den Philippinen den Schutz
der Reichsangehörigen und ihrer Interessen nöthigenfalls
wahrzunehmen.
— Aus Hannover wird der Kreuzzeitung mitgetheilt,
daß der frühere Reichskanzler Graf v. Caprivi, obschon
er Chef des Infanterieregimentes Herzog Friedrich Wilhelm
von Bragnschweig (ostfriesisches) Nr. 78 in Osnabrück
bezw. (3. Bataillon) in Aurich ist, doch nicht zur Parade
und zu den Manöver» nach Hannover komme. Der frühere
commandirende General des XV. Armeekorps, General
der Infanterie v. Blume, der Chef des Infanterie-
regiments Herwarth v. Bittenfeld (I. westfälisches) Nr. 13
zu Münster in Westfalen ist, wurde dagegen zur Theil-
nähme an der Kaiserparade bei Minden befohlen.

Hannover, 2. September. Der Kaiser und die
Kaiserin trafen heute Nachmittag halb 3 Uhr bei schö-
nem Wetter mjt großem Gefolge hier ein. An der
Ehrenpforte auf dem Wege vom Bahnhof zum Schlosse
wurde das Kaiserpaar durch den Stadtdirektor Tromm
mit einer Ansprache begrüßt. Der Kaiser erwiderte darauf:
Die Worte, die Sie soeben gesprochen, sind der Kaiserin und
mir zu Herzen gegangen. Ich glaube ohne Uebertretbung sagen
zu können, daß ich ein guter Richter sein kann über die Empfänge
in den Städten, die ich zur Zeit des Lebens meines Großvaters
und Vaters und auch seit der Zeit, da ich regiere, mitgemacht
habe. Ich kann ohne Uebertreibung sagen, daß die Geschicklich-
keit in der Anordnung und der Geschmack in der Ausrüstung
hier in einer Weise sich hervorgethan haben, wie ich es selten
gesehen habe, daß die Stadt Hannover am heutigen Tage sich
in einem Gewände gezeigt hat, wie keine andere deutsche Stadt.
Ich bin durchaus überrascht davon. Den deutschen Sinn, den
Flug in die Ferne, das offene Auge für alles, was die Welt
bewegt, das schnelle Erfassen großer Gedanken und Aufgaben
seitens der Stadt und Provinz Hannover habe ich kennen ge-
lernt und die großen, wichtigen Kulturaufgaben, die Sie soeben
gestreift haben, werden, so hoffe ich, von grundlegender, entschei-
dender Bedeutung für die Weiterentwicklung der Stadt Hannover
sein. (Der Stadtdirektor hatte dem Kaiser speziell für die För-
derung des Rhein-Weser-Elb-Kanal-Projektes gedankt. Red.)
Daß wir soweit gekommen sind, das Projekt noch in diesem
Jahre vorzulegen, danken wir vor allem der guten Betheiligung
von Stadt und Provinz Hannover. Ich hoffe, daß dieses Vor-
bild in Stadt und Provinz auch wettere Nachahmung finden
möge. Ihnen aber spreche ich den Wunsch und die Bitte aus,
im Namen der Kaiserin und in meinem Namen der gesammteu
Bürgerschaft der Stadt den herzlichsten, innigsten Dank auszu-
sprechen für den herzlichen deutschen Empfang. Bei dem Anblick
von Tausenden von Kindern, Jungfrauen und Jünglingen schlägt
einem das Herz vor Freude. Man kann mit großer Hoffnung in
die Zukunft sehen. In der Hoffnung, daß die Stadt Hannover
sich wie bisher weiter entwickeln wird, leere ich diesen Pokal auf
ihr Wohl.
Bade». L.6. Karlsruhe, 2. Septbr. Das von
unseren jungen Philologen mit Sehnsucht erwartete
Avancement ist endgiltig erfolgt: heute wurden nicht
weniger als 26 Lehramtspraktikanten zu Pro-
fess o r e n befördert._
Aus der Karlsruher Zeitung.
— Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben dem
Reallehrer Wilhelm Weber an der Realschule in Waldshut das
Ritterkreuz 2 Klasse des Ordens vom Zähringer Löwen ver-
liehen, dem Zeichenlehrer Otto H a ßl in g er am Gymnasium
in Karlsruhe unter Verleihung des Titels „Professor" die etat-
mäßige Amtsstelle eines Zeicheninspektors übertragen, die Direk-
toren an den Oberrealschulen zu Mannheim, Freiburg und
Heidelberg Adolf Conradi, Edmund Rebmann und Friedrich
Wittmann zu Oberrealschuldirektoren ernannt.
— Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben 1. den
Professor Philipp Keller an der Höheren Bürgerschule in Ett-
lingen auf sein Ansachen der Leitung dieser Anstalt enthoben und
den Professor Dr. Ludwig Nohl an der Oberrealschule in Hei-
delberg an die Höhere Bürgerschule in Ettlingen versetzt und
zugleich mit der Leitung dieser Anstalt betraut; 2. in gleicher
Eigenschaft versetzt: den Professor Norbert W ein d el am Real-
progymuasium in Ettenheim an das Realgymnasium in Mann-
heim, den Professor Christian Franz am Realgymnasium in
Mannheim an das Realprogymnasium in Ettenheim, den Prof.
Hermann Conrad an der Höheren Bürgerschule in Ettlingen,
an die Realschule in Ladenburg, den Professor Karl Reichert
an der Realschule in Ueberlingen an jene in Offenburg, den
Professor Dr. Karl Oreans an der Höheren Bürgerschule in
Säckingen, an jene in Breisach; 3. nachbenannten Lehramts-
praktikanten, unter Ernennung derselben zu Professoren, etat-
mäßige Professorenstellen übertragen, und zwar: dem Lehramts-
praktikanten Adolf Hübler von Binningen an dem Realgym-
nasium in Karlsruhe, den Lehramtsprakttkanten Dr. K. Scheid
von Kippenheim und Wilh. Höll von Freiburg an der Ober-
realschule in Freiburg, dem Lehramtspraktikanten Dr. Theodor
Lorentzen von Barghorst an der Oberrealschule in Heidelberg,
den Lehramtspraktikanten Ang. Kramer von Ueberlingen, Dr.
Alfred Wtnkelmann von Bern und Julius Dörr von Heidel-
berg an der Oberrealschule, bezw. Realschule in Karlsruhe, den
Lehramtspraktikanten Adolf Lebkuchen von Heidelberg, Alfred
Beuttel von Rheinbischofsheim, Jmmanncl Kölle von Pforz-

Frau Apothekers Liebesgeschichte.
Von Felix von Stenglein.
(Nachdruck verboten.)
lein ? Aufgabe war nicht leicht. Mein Vater konnte störrisch
zwei Bruder war's noch mehr. Dec Feldzug zerfiel in
(--heile. Im ersten Theil galt es, ihm das Studium zu
griff en. Das war nicht das Schwerste, denn allen Tadel
Er lebhaft auf, und er selbst war sehr leicht verlebt,
tubm Angehörigkeiten könnt' er sich Tage lang nicht be-
kiok» -: der Gegenstand wurde nach allen Seiten hin mit
>bn « " und Leidenschaft durchgehechelt. Und ich bracht'
st», auf recht viel Ungehörigkeiten in der Schule. Die
d-s m">edenheit in ihm wuchs. Dann mußte das Einerlei
WuArufs herhalten. „Weißt Du," sagte ich zum Beispiel,
ew Gymnasiallehrer hat's doch eigentlich schrecklich,
dgh W wieder dasselbe durchkauen, — ich wundere mich,
Dan» mehr Leute aus dem Stande verrückt werden."
ttdnn. 'ch von den Quälereien an, die manche Lehrer zu
Klaff- ll hätten. „Hast Du gehört, was sie in Miltners
Iam>. wieder mit dem armen Menschen angestellt haben?"
RaffAA "Sie haben ihm einen Frosch in seine Hintere
-Na i-a vraktizirt, und er hat sich draufgesetzt." Oder ich
iebn Ur Eklug von Besoldungsverhältnissen an, die ich mit
Ä?Mrzen Farben schilderte.
h»n» » urzte ich ihn in die Nacht des Zweifels, um ihm
BalsnU' r die rettende Hand entgegenzustrecken und ihm
m das verwundete Herz zu träufeln. Dieser Balsam
beo-nn >!? Andeutungen über den Apothekerberuf, und damit
Wn ix» r zweite Theil meiner Aufgabe. Hier dauerte es
sucht "SEf' bis er anbiß. Schließlich siegte die Erwerb-
Worden , viele Apotheker waren schon reiche Leute ge-
bor »And das war auch, nachdem die Angelegenheit erst
fist Hs- cm um der Familien-Oeffentlichkeit gekommen war,
EklbsA Mutter sehr einleuchtend. Daß man schwerer zur
allen « -Mit kommen konnte, diesen Punkt sucht' ich mit
" Kräften zu verschleiern.

Und io gelang es denn endlich! Mein Bruder trat als
Lehrling in die Löwenapotheke ein. -
Der feierliche Moment, da ich mit dem geheimnißvollen
Provisor das erste Wort sprechen sollte, rückte näher. Ich
dachte mir, er würde etwas sehr Großartiges sagen. Aber
es kam ein wenig anders, als ich gedacht hatte.
Ich brachte eines Tages Wäsche für den Bruder. Einen
Korb am Arm, im einfachen Morgenkleid, ging ich in die
Apotheke. An meine äußere Erscheinung batte ich merk-
würdigerweise gar nicht gedacht, zum Unglück hatte ich auch
an den Schuhen sehr niedrige Hacken, und sehr groß war ich
von Natur nicht.
Klopfenden Herzens steh' ich da und warte. Ich suche
nicht nach meinem Bruder, ich sehe nur auf den Provisor.
Mit unnachahmlicher Grazie wickelte er einer Frau ein
Büchschen Salbe ein. Ich war in allen Himmeln.
Nun wendet er sich zu mir. Ich stehe da, starre ihn an,
und sage nichts. Er sagt auch nichts. Gewiß ist er ebenso
hingenommen von Dir wie Du von ihm, denk' ich. Da
macht er die Stirn kraus und fragt gar nicht freundlich:
„Was willst Du?"
„Du," sagte er zu mir, zu einem achtzehnjährigen Mädchen!
Seine Bekannte aus dem Garten, die er so oft gegrüßt hatte,
erkannte er nicht. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.
Mechanisch öffn' ich die Lippen und sage leise, daß ich zu
meinem Bruder möchte. Da sieht er mich noch bissiger an
und meint: „Kannst Du nicht lauter sprechen? Ich verstehe
kein Wort." Da aber verwandelt sich Plötzlich alles in mir,
eme solche Frechheit war mir noch nicht vorgekommen, ich
antwortete ziemlich laut und heftig: „Na, dann sperr' doch
deine Ohren auf!" werf' ihm noch einen wüthenden Blick zu
und stürze zur Thür hinaus. Wie Du mir, so ich Dir!
Und aus war's. Wenigstens für 'ne Weile. Ich beschloß
natürlich, mit ihm zu brechen. Hätt' ich nicht alsbald seine
Lebensgeschichte gehört, so hätt' ich's sicher gethan-
Sein Vater war als junger Gelehrter in Wien tüchtig
und angesehen, etwas schwächlich an Körper, aber ein hübscher

Mann. Da verliebt er sich in ein Wäichermadl und heirachet sie.
Nun, 's war auch ein Geschöpf Gottes wie andere, und ein
schönes und gutes dazu. Trotz ihrer verschiedenen Bildungs-
stufe hätten sie wohl auch recht glücklich leben können, aber
seine Eltern zogen sich von ihm zurück, und es ging den
jungen Leuten herzlich schlecht. Nach drei Jahren starb er,
nach fünf Jahren sie, am Elend, am gebrochenen Herzen.
Der Großvater nahm jetzt den Buben zu sich und ließ ihn
erziehen, aber nie hat er's ihm vergeben, daß er der Sohn
war vom Wäschermadl. Unü's war doch seine Mutter, die
ihn geboren, ihn über alles lieb gehabt! Das fraß an ihm
Zeitlebens. Geld gab's für ihn, aber keine Liebe. Und so
ist er durchs Leben gegangen und hat geglaubt, es gäb' über-
haupt keine. Jetzt begriff ich seine Vereinsamung, sein sonder-
bares Wesen, und in meinem Herzen fing's wieder an auf-
zusprießen.
Nun ja, aber was nützte das alles? Mein Bruder Philipp
nämlich, den ich so gewissermaßen als Brücke zu meinem
Glück hatte betrachten wollen, entdeckte nach seiner Meinung
bald Zeichen von „Ignoranz" bei ihm und fand verschiedene
Verordnungen „stupide". Er fing schließlich an, den Leuten
die Medizin mehr nach seinen eigenen Anschauungen zu ver-
abfolgen, und so fand seine Wirksamkeit für das Wohl der
Menschheit ein schnelles Ende, er wurde entlassen!
Ein neuer Querstrich! Aber in der größten Hoffnungs-
losigkeit fing mein Stern an zu leuchten. Der Provisor be-
suchte uns, um die Angelegenheit mit meinem Vater zu be-
sprechen. Und auf diesen Besuch hin, mußte er doch mal
eingeladen werden. So wurden wir bekannt.
Ich freute mich dieser näheren Bekanntschaft, aber irgend
welche besondere Beachtung schenkte er mir noch immer nicht.
Er übersah mich- Immer schwebte er in höheren Regionen,
das Irdische war ihm nur nothwendiger Nebel. Man konnte
sich nicht ganz davon fern halten, es war nun mal da. Seine
Augen waren gewissermaßen immer gen Himmel gewandt,
großartige Ideen beschäftigten ihn, und so bemerkte er die
Blumen am Wege nicht. Und die sind's, die oft dem Leben
erst Glück und Inhalt geben. (Fortsetzung folgt.)
 
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