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Heidelberger Zeitung — 1898 (Juli bis Dezember)

DOI Kapitel:
Nr. 150 - 175 (1. Juli 1898 - 30. Juli 1898)
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https://doi.org/10.11588/diglit.42070#0015

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frei in's Haus gebracht.
Durch die Post bezogen
vierteljährl. 1.25
ausschließlich Zustellgebühr.
Telephon-Anschluß Nr. 82.

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tafeln der Heidelb. Zeitung
und den Plakatsäulen.

Telephon-Anschluß Nr. 82.

Xr. 152.

Mlnitag, den 4. Juli

1898.

Bestellungen
auf die Heidelberger Zeitung für das III. Quartal
werden bei allen Postanstalten, den Briefträgern, den
Agenten, bei den Trägern in der Stadt, sowie in der
Expedition, Untere Neckarstraße Nr. 21, angenommen.
Bezugspreis: monatlich »nr 50 Pfg., frei in's Haus
gebracht; durch die Post bezogen Mk. 1.25 vierteljährlich,
mit Zustellgebühr Mk. 1.65.

Aus dem neuesten Werk Poschinsters.
Bon seinem Werk „Bismarck und der Bundesrath"
hat Hr. v. Poschinger den vierten Band herausgegeben,
der ein merkwürdiges Schicksal gehabt hat. Kaum waren
die Recensionsexemplare an die Zeitungsredaktionen ver-
sandt, als sie auch schon wieder zurückverlangt wurden;
man sagt, das Werk soll eingestampft werden. Natürlich
ist nun die Neugierde groß, was wohl in dem Werk ent-
halten sein mag. Der Neudruck ist noch nicht ausgegeben;
offenbar aus der zur Vernichtung bestimmten Auflage macht
aber die Voss. Ztg. jetzt folgende Mittheilungen, die wir,
da sie nunmehr der Oeffentlichkeit vorliegen und durch die
Presse gehen, wiedergeben:
Herr v. Poschinger erzählt, die Ernennung des
Generals von Verdy zum Kricgsminister sei
eine Ueberraschung gewesen, „wahrscheinlich auch für den
Fürsten Bismarck". Verdy sei ja ein vielseitig gebildeter
Offizier, auch in einigen bürgerlichen Kreisen Berlins
„wegen seiner Jovialität" beliebt; aber er sei als prakti-
scher Truppenführer nicht besonders hervorgcrreten; „zu-
nehmende Korpulenz und mangelhafte Reitfertigkcit mochten
ihm dabei hinderlich gewesen sein." Als Verdy zum
Gouverneur von Straßburg ernannt wurde, habe man ge-
schlossen, daß er für den Posten eines kommandirenden
Generals die nöthigen Eigenschaften nicht besitze und da-
her bald in den Ruhestand treten werde. Auf seine Er-
nennung zum Kriegsminister konnte man daher „keinen
Vers finden". In militärischen Kreisen habe man bald-
angenommen, seine Berufung sei das Werk des Grafen
Waldersee gewesen, der damals als Anwärter für den
Reichskanzlerposten galt-: „Es hieß damals, Waldersee
bereite die neue Wendung der Dinge durch rechtzeitige
Heranziehung der Leute vor, rwt denen er später seine
Siege zu erringen hoffe. Gleichviel ob dies zutreffend
war oder nicht, manches sprach für Waldersces Ein-
wirkung." Zu den Verehrern des Fürsten Bismarck habe
Verdy keinesfalls gehört: „Ob für dessen Wahl zum
Kriegsminister auch dieser Umstand bestimmend gewesen ist,
muß dahingestellt bleiben. Sicher ist wohl anzunehmcn,
daß dem Fürsten Bismarck der neue Kollege im Staats-
ministerium nicht sympathisch war und er andere als ge-
schäftliche Beziehungen zu ihm nicht unterhalten hat."
Verdy habe wohl bereits gewußt, daß Bismarcks Tage
gezählt waren, und habe sich gehütet, ihm militärische Zu-
kunftsbilder (zweijährige Dienstzeit) zu entrollen, von denen
er überzeugt war, daß sie die kanzlerische Genehmigung
niemals finden würden. Herr v. Poschinger sagt weiter:
„Verdy's Schicksal war im Grunde mit Waldersee's Ver-
setzung nach Altona besiegelt. Sollte Letzterer, wie manche
glauben, dereinst einmal Reichskanzler werden, so wird
sicher auch die Person Verdy's politisch wieder in den
Vordergrund treten."
Von dem Gesandten Bayerns, Grafen v.Lerchenfeld-
Köfering, entwirft Poschinger folgendes Bild: Graf
Lerchenfeld ist „mehr Hof- als Staatsmann". „Falls
Graf Lerchenfeld diplomatisches Talent besitzt, so hat er
im Bundesrath jedenfalls keine Gelegenheit, es zu ent-
Ein Griff in's Leben.
11) Novelle von Reinhold Ortmann.
(Fortsetzung.)
„Vielleicht sehen Sie zuerst in der Morgue nach," rietb
ihm ein menschenfreundlicher Beamter. „Sie ersparen sich da-
mit möglicherweise viele unnütze Wege. Nach dem Rapport
und gestern nicht weniger als fünf Selbstmörder eingeliefert
worden. Es wäre doch immerhin denkbar, daß er sich da-
runter befindet."
Und der junge Maler konnte sich in der That alle weiteren
Wege ersparen, nachdem er in der Morgue gewesen war- Aut
einem der Steintische hinter der Hohen Glaswand hatte er
Win Modell wiedergefunden, starr und leblos, mit einer kleinen
schwärzlichen Schußwunde an der rechten Schläfe. Das
schwarze, lockige Haar fiel ihm wirr in die Stirn, die großen,
dunklen, verglasten Augen waren weit geöffnet, und auf dem
fahlen, eingefallenen Antlitz lag ein herzergreifender Ausdruck
wilden Entsetzens. So hatte man ihn, wie der Rapport be-
sagte. auf einer Bank in den öffentlichen Anlagen gefunden,
und seine Leiche war im Schauhause ausgestellt worden, weil
der Tobte weder ein Papier noch sonst einen Gegenstand bei
nch getragen, der Aufschluß über seine Persönlichkeit ge-
geben hätte.
Lange blieb Wallfried vor der Glaswand stehen, in den
Anblick der sterblichen Ueberreste jenes armen Schiffbrüchigen
versunken. Dann that er, ungeachtet aller damit verbundenen
Umständlichkeiten und Kosten, die erforderlichen Schritte, um
dem von ihm rekognoscirten Selbstmörder ein anständigeres
Begräbniß zu verschaffen, als es ihm sonst zutheil geworden
Ware. Das seltsame Erlebniß, das wie eine Lustspielscene
begonnen hatte, um wie ein Trauerspiel zu enden, hatte ihn
iu tiefster Seele erschüttert: aber eine ebenso unerklärliche
als unüberwindliche Scheu hielt ihn ab, zu einem seiner Be-
kannten davon zu sprechen. Nicht einmal seinem vertrauten
ureunde Rudolf Lindner gegenüber konnte er sich dazu ent-

falten." Herr v. Poschinger erzählt, daß Fürst Bismarck
einmal einen früheren bayerischen Gesandten, der bei einem
Hoffest sich dem diplomatischen Corps angeschlossen
habe, französisch ansprach: „Da Bayern wieder seine
europäische Stellung eingenommen hat, muß ich Sie schon
in der in der Diplomatie üblichen Sprache anreden." Die
ganze Diplomatie der Einzelstaaten sei ein „Kokettiren
mit einem diplomatischen Corps". Auch die Bestimmung
der Verfassung, die einen Ausschuß für die auswärtigen
Angelegenheiten unter bayerischem Vorsitz schafft, stehe nur
auf dem Papier. Dieser Ausschuß sei ein todtgeborenes
Kind geblieben. Herr v. Poschinger sagt: „Dem bayerischen
Gesandten kann man nur wünschen, daß ihm auch ferner-
hin niemals die Verlegenheit bereitet werde, an einem
Ausschuß theilzunehmcn, wo die Rcllen so künstlich ver-
theilt sind, daß der den Vorsitz zu führen hat, der nichts
von der Sache weiß und überhaupt nur soviel erfährt,
als es der Kanzler für opportun erachtet." Die diplo-
matischen Ausgaben des bayerischen Gesandten erschöpfen
sich nach Herrn v. Poschinger wesentlich in geselligen
Pflichten. Auch in der Vorbereitung der Reichsgesetzgebung
sei der gegenwärtige bayerische Gesandte über eine Art
ornamentale Stellung, etwa der eines Gesandten am alten
Bundestage, nicht hinausgekommen: „In München ohne
politischen Einfluß, vermag er auf den Gang der Reichs-
politik keinen maßgebenden Einfluß auszuüben, zumal
ihm die Rednergabe fehlt und er in Folge dessen im
Reichstage nur selten das Wort ergreift. Er hat dort
in den 18 Jahren seiner bundesräthlichen Wirksamkeit
im Ganzen 15 Mal das Wort ergriffen, und da
auch, von einigen Ausnahmen abgerechnet, nur
auf die Abgabe kurzer Erklärungen sich beschränkt.
Graf Lerchenfeld bekleidet bereits seit verhältnißmäßig
langer Zeit seine dermalige Stellung; unter die Herrschaft
von drei Kaisern und drei Kanzlern fallen seine Dienste.
Ohne sich mit dem politischen System des einen oder des
anderen zu identifiztren, hat er alle Wandlungen der Po-
litik im Laufe dieser Zeit mitgemacht. Ehedem ein be-
geisterter Verehrer Bismarcks, dem er viel zu verdanken
hat, ist Graf Lerchenfeld ein bereitwilliger Mitarbeiter
auch von dessen Nachfolgern geworden." Es wird schließ-
lich die Ansicht ausgesprochen, daß Bayerns Stellung im
Bundesrath einflußreicher wäre, wenn „statt eines mit den
inneren und wirthschaftlichen Verhältnissen des Landes
wenig vertrauten Diplomaten" ein hervorragender prak-
tischer Beamter der inneren Verwaltung die Stelle des
stimmführenden bayerischen Bevollmächtigten einnehmen
würde.
Die Nationalztg. bemerkt dazu: Herr v. Poschinger ist
seit langen Jahren ständiger Hilfsarbeiter im Reichsamt
des Innern. Er hat seiner Zeit die Berichte Bismarcks
aus der Zeit seiner Thätigkeit als Bundestagsgesandter
herausgegeben; dieses Werk „Preußen im Bundestag" ist
eine wichtige Geschichtsquelle. Ungleich weniger bedeutsam
sind die späteren Sammelwerke des Herrn o. Poschinger;
auch das neueste „Fürst Bismarck und der Bundesrath"
hatte bisher nur geringes Interesse dargeboten, da es in
der Hauptsache nur protokoüartige Zusammenstellungen der
Bundesrathsverhandlungen enthält; der jüngste Band aber
war offenbar zu eigenthümlichen Schicksalen bestimmt.
Herr v. Poschinger selbst erklärt in den Berl. N.
Nachr., daß er mit dem Fürsten Bismarck über Band IV
des „Bundesraths" weder mündlich, noch schriftlich, noch
auch durch Zwischenpersonen irgendwie verhandelt habe,
und bemerkt weiter, daß die in der zurückgezogenen ersten
Auflage enthaltenen, theilweise nicht zutreffenden
Urtheile über einzelne Bevollmächtigte zum Bundesrath,
schließen. Er fürchtete eine sarkastische Bemerkung des un-
verbesserlichen Spötters, und er war von dem Schicksal des
unglücklichen Komödianten zu schmerzlich bewegt, als daß er
eine solche ruhig hätte ertragen können.
Mit der Erklärung, daß er sich während der nächsten
Wochen ausschließlich seiner Arbeit widmen wolle, zog er sich
plötzlich von allem gesellschaftlichen Verkehr zurück. Und es
war in der That kein eitler Vorwand, dessen er sich da be-
diente, um dem leeren und unermüdeten Treiben zu entfliehen.
Vom frühen Morgen bis zum Einbruch der Dunkelheit
stand er fast unausgesetzt an seiner Staffelei vor der umfang-
reichen Leinewand, auf der sein neues Bild entstand, und
noch nie zuvor hatte er so rücksichtslos alle seine Kräfte
fast bis zur Erschöpfung an die rasche Vollendung seines
Werkes gesetzt.
Es war ungefähr drei Wochen nach jenem Abend, wo sie
in Dimiani's Weinstube die Bekanntschaft des ehemaligen
Schauspielers gemacht hatten, als Wallfried's kleiner Diener
seinem Herrn eines Morgens den Besuch des Doktor Lindner
meldete; der Maler, der schon wieder in emsiger Arbeit ge-
wesen war, zog rasch die Gardine zu, die jedem Eintretenden
den Anblick des neuen Gemäldes entzog und ging dem Freunde
entgegen, mit dem er seit vierzehn Tagen nicht mehr zusam-
mengelroffen war.
„Kommt der Berg nicht zu Mahomet, muß Mahomet wohl
zum Berge kommen," scherzte der Doktor; aber der launige
Ton hielt nicht einmal bis zum Schluffe- dieser Anrede vor,
und während er den Freund mit forschendem Blick betrachtete,
flog es wie ein Schatten ernster Sorge über sein Gesicht.
„Was in aller Welt hat dies zu bedeuten, Herbert?" fuhr
er mit ganz verwundertem Ausdruck fort. „Ich glaubte bis-
her, eS sei nur eine von den sogenannten Künstlerlaunen, die
Dich urplötzlich zum Einsiedler werden ließ, Dein schlechtes
Aussehen aber will mich eines anderen belehren. Um's Him-
melswillen, alter Junge, bist Du denn krank?"
Wallfried schüttelte den Kopf und lächelte. Aber es war
ein müdes, schmerzliches Lächeln, wahrlich nicht danach ange-
than, die Besorgnisse des Freundes zu zerstreuen.

insbesondere über den bayerischen Gesandten Grafen Lerchen-
feld, ihn veranlaßt haben, eine neue Auflage zu veran-
stalten.

Deutsches Reich.
Berlin, 3. Juli.
— Die Sozialdemokratie hat bei den dies-
jährigen Wahlen rund 2125 000 Stimmen erhalten;
340000 mehr als 1893. So rechnet das sozialdemo-
kratische Centralorgau, um mit der Fanfare zu schließen:
„Also ein unaufhaltsamer Vormarsch, unser» Gegnern zum
Entsetzen und der der Erlösung vom kapitalistischen Drucke
harrenden Menschheit zum Segen und Heil!" Bei diesem Zu-
wachs ist immerhin zu berücksichtigen, daß die Gesammt-
bevölkerung des Reiches in den letzten fünf Jahren sich
um rund 10 Procent vermehrt hat, sodaß man ca. 200 000
Stimmen als den natürlichen Zuwachs bezeichnen darf.
Außerdem hatte die Sozialdemokratie jetzt zum ersten Mal
in sämmtlichen Kreisen Kandidaten aufgestellt, so daß
sämmtliche sozialdemokratische Stimmen an den Tag kamen,
was früher nicht möglich war. Unter Berücksichtigung
all dieser Umstände ist die Zunahme der sozialdemokratischen
Stimmen keine ungeheuerliche. Daß die Sozialdemokratie
noch immer an Zahl ihrer Mitglieder zunimmt, ist klar.
Bis sie aber eine parlamentarische Machtstellung erringt,
wie sie etwa das Centrum heute hat, dürfte doch noch
ein Menschenalter hingehen und bis dahin kann sich noch
viel — nicht zum wenigsten in der Sozialdemokratie
selbst — geändert haben. Wirklich lebensgefährlich für
Deutschland kann die Sozialdemokratie erst werden, wenn
sie die größere Hälfte aller Reichslagsmandate — also
mindestens 199 — inne hat; dann könnte sie die Gesetz-
gebungsmaschine zum Stillstand bringen. Ob es überhaupt
soweit kommt, darf billig bezweifelt werden.
— Die Reise des Staatssekretärs v. Podbielski
nach Oesterreick-Ungarn hängt, dem Berliner Tage-
blatt zufolge, mit dem von ihm und dem preußischen
Staatsministerium vertretenen Bestreben zusammen, den
deutschen Reichspostdienst nach Möglichkeit zu verein fachen
und zu verbilligen. Hand in Hand damit geht der Wunsch,
unseren erwerbsfähigen Frauen ein Feld der Listigkeit
in höherem Maße zu erschließen, als dies bisher der Fall
war. In Oesterreich sind im Postdienst weit mehr Frauen
bezw. Mädchen angestellt als bei uns.
— Der Reichsanzeiger schreibt: Auf Einladung des
Reichseisenbahnamtes fand am 29. Juni in
Stuttgart unter Leitung des Geheimen Oberbaurathes
Misoni als Vertreter der Reichsbehörden eine Berathung
der Kommissare der meistbetheiligten Bundesregierungen
über die weitere Entwicklung der Grundsätze für die Be-
messung der Dienstdauer und Ruhezeit der Eisenbahn-
betriebsbeamten statt. Wie der Reichsanzeiger hört, haben
die Verhandlungen zwischen den Betheiligten zu einer Ver-
ständigung über alle wesentliche Punkte geführt, so daß
künftig auf Einheitlichkeit in dieser für die Sicherheit des
Eisenbahnbetriebes so wichtigen Frage zu rechnen ist. Die
Durchführung der angenommenen Grundsätze wird für
zahlreiche Beamte große Erleichterungen im Ge-
folge haben.
Baden. Karlsruhe, 2. Juli. Bezüglich der an-
geblichen Erzbischofsernennung fehlen nach dem
Schwäb. Merkur authentische'Anhaltspunkte.
Badischer Landtag. Karlsruhe, 2. Juli. 23.
öffentliche Sitzung der Elsten Kammer.
Es erfolgt die Anzeige der neuen Eingaben.
„Ich befinde mich ganz wohl," sagte er. „Vielleicht bin
ich ein wenig überarbeitet; aber das ist auch alles."
So leicht jedoch ließ sich der erfahrene Menschenkenner nicht
täuschen.
„Nein, Herbert, Du sprichst nicht die Wahrheit. So wie
Du sieht kein Künstler auS, der mitten in fröhlichem Schaffen
begriffen ist. Ich kenne Dich ja nun lange genug, um zu
wissen, wie gerade die Arbeit auf Dich immer gleich einem
belebenden Jungbrunnen zu wirken pflegte. Es war mir
immer eine rechte Erquickung, Dich in einer solchen schöpfe-
rischen Periode zu beobachten. Jetzt aber — nimm mir's
nicht übel, mein Junge — jetzt erscheinst Du mir plötzlich um
zwanzig Jahre gealtert, und wenn ich Dich auf der Straße
wiedergesehen hätte, statt hier in Deinem Atelier, wer weiß,
ob ich nicht an Dir vorübergegangen wäre, ohne Dich zu er-
kennen."
Wallfried wandte sich ab, wie wenn er den unbequem
klugen, forschenden Augen nicht länger ausgesetzt sein wollte,
und starrte in finsterem Schweigen vor sich nieder. Als nun
aber der Doktor an seine Seite trat, ihm die Hand auf die
Schulter legre und ihn mit einer Herzlichkeit, wie sie nur
selten im Klang seiner Stimme war, an ihre alte Freundschaft
mahnte und an das Vertrauen, das von jeher zwischen ihnen
bestanden, da vermochte er dem Drange nach Mittheilung, der
ihn lange erfüllt haben mochte, nicht mehr zu widerstehen.
Mit einer Leidenschaftlichkeit, die etwas von der Wildheit der
Verzweiflung hatte, rief er aus:
„Soll ich froh und glücklich vergnügt aussehen, Rudolf,
wenn sich mir Stunde auf Stunde auf's neue die unbarm-
herzige Gewißheit aufdrängt, daß ich bisher das Opfer einer
eitlen Selbsttäuschung war — und daß ich kein Künstler,
sondern ein mittelmäßiger Handwerker, ein elender Stümper
bin, dessen Kraft kläglich versagt, sobald er sich zum ersten
Mal an eine wahrhaft bedeutende Aufgabe machen will."
Der Doktor schien über diese Enthüllung bei weitem nicht
so bestürzt, als Wallfried es erwartet haben mochte.
(Fortsetzung folgt.)
 
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