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Heidelberger Zeitung — 1898 (Juli bis Dezember)

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Nr. 229 - 254 (1. Oktober 1898 - 31. Oktober 1898)
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https://doi.org/10.11588/diglit.42070#0353

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Ar. 233.

DmnckstW, Lex 6. Oktober

1898.

Vom sozialdemokratischen Parteitag.
Der Stuttgarter Parteitag der Sozialdemokraten zeigt
die Führer der Sozialdemokratie durchaus nicht in Ein-
müthigkeit zu einander stehend, sondern es spielt sich da
ein bemerkeuswerther Kampf zwischen den Alten und
den Jungen, zwischen den Gemäßigten und den Radi-
kalen ab. Bei der großen Redseligkeit, die man im All-
gemeinen bei den Sozialdemokraten antrifft, dehnen sich
die Verhandlungen sehr in die Länge. Am wüthendsten
gebärden sich auf dem Parteitag zwei Weiber: Frau Zetkin
und Fräul. Dr. Luxenburg. Die fahrige leidenschaftliche
Art dieser Beiden ist sogar einem erheblichen Theil der in
Stuttgart versammelten Genossen durchaus zuwider und die
beiden Vertreterinnen des weiblichen Geschlechtes haben
Manches unverblümte Wort des Tadels zu hören bekommen.
Dem unglücklichen Genossen Heine, der s. Zt. gesagt
hat, man könne unter Umständen der Regierung Kanonen
bewilligen, wenn man Volksrechte dafür erlange, hätten
die Genossinnen und auch die „Jungen" unter den Ge-
uossen am liebsten das Fell über die Ohren gezogen;
ebenso dem Genossen Bernstein, der seit einiger Zeit in
England lebt und von dort aus der deutschen Sozial-
demokratie das Eintreten in positive reformatorische Arbeit
statt ihrer unpraktischen Träumerei empfiehlt.
Den langen persönlich zugespitzten Debatten ausführ-
stch zu folgen, kann nicht Aufgabe dieses Blattes sein.
Allein einige charakteristische Aeußerungen aus ihnen seien
hier wiedergegebcn, da es doch interessirt zu sehen, wie die
Partei eigentlich jetzt innerlich steht.
. Frl. Dr. Luxenburg-Dresden: Die Genossen Heine und
Peus sehen den Passus vom Endziel lediglich als eine schöne
stelle in unserem Programm an, die aber mit unser« Kampfe
sucht direkt zusammenhängt. Was macht aber diesen Kampf erst
sozialdemokratisch? Doch nur diese. (Beifall.) Gewerkschaftliche,
sozialpolitische und reinpolittsche Ziele verfolgen auch bürgerliche
Parteien. Erst die Beziehung dieser drei Formen des praktischen
Kampfes zu unserem Endziele macht den sozialdemokratischen
'»eist aus. (Beifalls Unter dem Endziel müssen wir verstehen
oas, was vor dem Zukunftsstaat kommt, die Eroberung der
politischen Macht. (Beifall.) Beim Zusammenbruch der
Kapitalistischen Gesellschaft werden wir den Syndikus spielen,
^enu wir aber auf diesem Standpunkte stehen, sind doch Aeuße-
pungen, wie sie in letzter Zeit gefallen, unmöglich, so die Aeuße-
jungen Heines über die Parvenüs, so diejenige Konrad Schmidts
un Centralorgan, daß wir die Majorität im bürgerlichen Parla-
ment erstreben müssen, so die Bernsteins, daß wir, wenn wir
mal ans Ruder kommen, auch dann nicht im Stande sind, unsere
Endziele durchzuführen. Als ich das las, dachte ich mir, welches
^luck, daß 1871 die sozialdemokratischen Arbeiter Frankreichs
uuders waren, denn sonst hätten wir statt des großartigen
Schauspiels der heroischen Kämpfe der Commune den Anblick
uuer Weiber gehabt. Diese Erörterungen, ob wir, zur Macht
»elangt, die Endziele durchführen können, sind Doctorfragen, wir
hüben nur eines, Eroberung der politischen Macht. (Beifall.)
Aur leben in einer Zeit, wo jeder Tag Ueberraschungen bringen
mnn; wir sind nie sicher, ob wir nicht morgen zur Macht ge-
nügen, dann werden wir die Herren bleiben trotz Sturm und
"H'nd und Schneidergeschwätz. (Lebhafter Beifall.)
»endrich-Offenbach: Die Genossin Luxenburg wird nicht
Mangen, daß ich höflich gegenssie sein muß, weil sie eine Dame ist.
-mit der Anmaßung, Neues zu sagen, ist sie aufgetreten und hat
u"s mit Gemeinplätzen traktirt. (Großer Lärm.) Was soll das
Gerede von Endziel und Revolution? Bereit sein ist alles
and das Pulver trocken halten. Was die Genossin Luxenburg
hat, dazu brauchten wir sie nicht, das wußten wir schon
Damit bin ich mit ihr fertig. Sie kennen meine Anschau-
agni und können sich das Uebrtge denken.
-kuer: Ihm sei angst und bange geworden, als die Zetkin
Hetzrede heruntergeschmettert habe und er sich sagen mußte,
Z, 'st von dem unterdrückten Geschlecht. Gnade uns, wenn
erst befreit sind. (Stürmischer Beifall.) Die Angst für
(Pesiall§)Ndziele v"r bei solchen, die selbst nicht gefestigt sind,
n Abg. Gradnauer-Dresden: Das Bedürfniß der Genossen
-hm Lektüre und Diskussion habe nach dem Sozialistengesetz

nachgelassen. Es fehlten in der Partei intelligente Kräfte, die
nicht im Verhältniß zum Wachsthum der Partei zunehmen. Die
Diskussion gegen den Genossen Heine sei nicht angethan. Ge-
bildete zu der Partei herüberzuziehen. (Sehr richtig.) Man
dürfe nicht neu eintretende Genossen bei kleinen Abweichungen
gleich mit dem gröbsten Geschütz bekämpfen. Man sage zwar,
man wolle keine Ketzerrichterei betreiben. Die Sächs. Arbeitec-
Ztg. habe geschrieben, Heine sei kein Sozialdemokrat, er solle
sein Mandat niederlegen. Genosse Heine habe sich thatsächlich
mit dem Gedanken getragen, sein Mandat niedcrzulegcn. (Abg.
Vollmar: „Das wäre eine schöne Geschichte gewesen!") Man
hat den Berliner Genossen sogar gesagt, sie sollten doch den
Munkel behalten, der sei ja auch ein ganz guter Rechtsanwalt.
(Heiterkeit.) Heine sei aber zu der Ueberzeugung gelangt, daß
man in unserer Partei dickfellig sein müsse. (Zwischenrufe).
Mau darf aber doch nicht durch übertriebene Anforderungen die
Leute abhalten, zu uns herüberzutreten. Ich billige auch nicht
die Kandidatenrede des Genossen Heine. Er hat eine Frage an-
geschnitten, mit der wir garnicht zu rechnen haben. (Abgeord.
Pollmar: „Zur Zeit!") Die Sächs. Arb.-Ztg. will auch für
ein Milizheer Kanonen bewilligen. Manche Leute seien von einer
fixen Idee befallen, sie sehen die kleinsten Dinge in ungeheuerer
Vergrößerung. Ich habe alle Hochachtung vor unseren Theore-
tikern. Diese Art Kritik ist aber schon Skandalircrei. Die Leute,
welche soviel kritisieren, sollten zuerst Selbstkritik üben. (Beifall.)
Bebel gibt eine Erklärung Bernsteins bekannt, die besagt,
das Forum einer Versammlung, stehe sie noch so hoch, könne
ihn (Bernstein) nicht irremachen in seinen sozialen Anschauungen.
Er glaube nicht, daß die bürgerliche Gesellschaft schon vor ihrem
Zusammenbruch stehe. Das kommunistische Manifest irrte in der
Abschätzung der Zeit, die für die Entwicklung nöthig ist. Die
Verhältnisse haben sich auch nicht so zugespitzt, wie das Manifest
annahm. Die Zahl der Besitzenden ist gewachsen. Die Mittel-
schichten ändern sich, aber sie verschwinden nicht. Die alte Be-
triebsweise besteht fort, demokratische Einrichtungen nehmen zu,
der Arbeiterschutz dehnt sich aus, im Staat wie in den Ge-
meinden, so verringert sich die Möglichkeit der Katastrophe!
Man braucht aber auch gar keine Katastrophe zur Erlangung
der politischen Macht. Marx gab 1872 zu, die Kommune habe
gezeigt, daß die Arbeiterschaft noch nicht reif sei, die Staats-
maschine zu übernehmen. Deshalb muß man für alle Reformen
eintreten, die das Niveau der Arbeiterkreise heben und die
Demokratisiruug ausbauen. In diesem Sinne ist die Bewegung
alles, das Endziel nichts. Bebel knüpft an Bernsteins Er-
klärungen die Bemerkung, daß darin ein dankenswerthes Extrakt
der Artikelreihe der Neuen Zeit gegeben sei. Ich weiche von
Bernstein in vielen Punkten ab, aber der Parteitag ist nicht in
der Lage, die Grundanschauungcn der Partei umzubilden. Auch
in die Frage der Taktik lasse ich mich nicht weiter ein.
v. Vollmar: Das Lied von der Versumpfung ist sehr alt.
Es gibt Leute, welche einen Parteitag ohne dasselbe für nicht
vollwerthig halten. So sehen wir alliährlich die apokalyptischen
Reiter einhersprengen und Verderbnis) weissagen. Auf die Neu-
linge unter uns macht das ja Eindruck, aber durch die ewige
Wiederholung werden diese Dinge nicht interessanter. Die Partei
hat sich Jahr um Jahr zu immer wachsender Größe und Reife
hinaufversumpft. (Heiterkeit und lebhafter Beifall.) Mich regt
die Sache schon lange nicht mehr auf und für. gewöhnlich fällt es
mir auch gar nicht ein, ein Wort darüber zu verlieren. Es gibt
Leute, die eher Sectirer sind als Proletarier, die im Leben ar-
beiten. Ein Größerer hat gesagt: eine Handvoll praktischer
Emancipation und Agitationsarbeit ist mir lieber als ein Schock
Theorieen. (Beifall.) Uns Deutschen steckt der Doctrinarismns
im Blut. Aus dem Genossen Fendrich hat nichts gesprochen, wie
der Aerger nicht nur gegen Fran Luxenburg, sondern gegen eine
ganze Richtung in unserer Partei, die mit Dresden insbesondere
zusammenhängt, die seit Jahr und Tag die Partei angreift und
langweilt (Beifall) durch die hochmüthige, hochnäsige Art ihres
Selbstbewußtseins, des fix und fertigen Urtheils von oben herab.
In prätentiöser Form spricht Frl. Luxenburg zu uns alten Vete-
ranen der Partei wie zu Schuljungen. Frl. Dr. Luxenburg hat
sich gezeigt ausgerüstet mit dem äußern Rüstzeug des Marxismus,
ich meine auch ihre Artikel, sie erweckt den Anschein der Wissen-
schaftlichkeit, aber bei genauerm Zusehen entpuppen sich ihre
Schlüsse als Trugschlüsse. Dann hat Frl. Luxenburg Ihr
revolutionäres Gewissen zu wecken gesucht mit der Anrede: „Wenn
die französischen Arbeiter 1871 so klug und abgeklärt gewesen
wären wie wir heute, hätten sie nicht losgeschlagen, sondern sich
ruhig ins Bett gelegt und geschlafen." Ueber historische Gescheh-
nisse ist schwer nrtheilen, sie kommen gewöhnlich mit elementarer
Gewalt, aber schlechter würden sie der französischen sozialdemokra-
tischen Partei nicht gedient haben, wenn sie geschlafen hätten.
(Sehr gut! Lärm und Unterbrechung am rechten Seitentische, wo
Parvns, Schönlank, Zetkin und Genossen Platz genommen haben.)

Sicher ist die Annahme der Frl. Luxenburg, die Commune sei ein
Stück Sozialdemokratie, gänzlich unhistorisch. Wir wollen nicht
durch künstliche Mittel von außen her die Macht gewinnen, sondern
durch innere Notwendigkeit; wir wollen dem Volke, dem wir
doch alle dienen-wollen, die Macht nicht ablisten und ihm Zwang
auflegen, sondern mit seinem eigenen Willen soll die Machtveränderung
vor sich gehen. (Singer muß, da die lärmenden Unterbrechungen in
der rechten Ecke fortdauern, mit heftigen Worten einschreiten.)
Die Idee, daß man, indem man den heutigen Zielen nachgeht,
die Endziele hinausschiebt, ist so nnsozialistisch, so unmarxistisch
wie denkbar; denn der Sozialismus geht von dem Gedanken
aus, daß die Agitation nicht abhängt von unserm eigenen Be-
lieben, sondern mit innerer Notwendig keit die Entwicklung gehen
muß. Nicht deßhalb sind wir unüberwindbar, weil wir so ge-
scheite Kerle sind und unsere Versammlungen halten, sondern
weil die ökonomischen Verhältnisse darauf hinarbeiten. Wenn
der immanente selbstwirkende Trieb zum Endziele nicht vorhanden
wäre, könnten wir uns begraben lassen (Beifall), und alle die
angegriffenen Männer Schmidt, Bernstein und andere haben sich
jedenfalls sehr viel mehr Verdienst erworben, als solche, die uns
die alten Cliches fort und fort neu vorlegen. Eine Partei von
solcher Kraft hat schon viel abgeschüttelt, sie wird sich auch von
der Phrase zu emancipiren wissen. (Anhaltendes stürmisches
Händeklatschen.)
Wochenchronik.
(Vom 25. Septr. bis zum 1. October).
Sept. 25. Mit Ausnahme Englands haben alle Kabinette der
Anregung Italiens wegen Bekämpfung desAnarchis-
mus zugestimmt.
„ 26. Der französische Ministerrath beschließt, die Akten des
Dreyfus-Prozesses dem Kassationshof zu über-
geben; damit ist die Revision des Dreyfusprozeffes ein-
geleitet.
„ 27. Der englisch-egyptische Oberkommandirende Kitchener
hat in Faschoda am oberen Nil die englische und
die egyptische Fahne neben der französischen der Ex-
pedition Marchands gehißt.
„ 29. Die Königin von Däne mark stirbt.
„ 29. In Freiburg findet die Inthronisation des
Erzbischofs Nörber statt.
„ 30. Der österreichische Handelsminister Bärn-
reither, der dem deutschen Großgrundbesitz ange-
hört, reicht seine Demission ein.
Octbr. 1. InStuttgart wird ein Denkmal Kaiser Wilhelms 1.
enthüllt.

Deutsches Reich.
— Zur Orientreise des Kaiserpaares ver-
lautet: Die Abreise von Berlin erfolgt am 12. October.
Am folgenden Tage, Nachmittags 5 Uhr, findet die Ein-
schiffung in Venedig statt. Die Seereise nach dem Bos-
porus dauert nahezu vier Tage. Am Montag, 17. Oct.,
wird das Kaiserpaar Vormittags 11 Uhr in Konstantinopel
eintreffen. Hier ist ein fünftägiger Aufenthalt in Aussicht
genommen. Die Abreise wird am Nachmittag des 22.
October stattfinden, die Landung in Haifa am 25. Octbr.
Am 29. October, Mittags 1 Uhr, trifft das Kaiserpaar
im Zeltlager vor Jerusalem ein. Nachmittags halb 4 Uhr
erfolgt zu Pferde der Einzug. Vom Jaffathor geht das
Kaiserpaar zu Fuß nach der Grabeskirche. Die Abfahrt
von Jerusalem wird für den 5. November beabsichtigt.
— Der Kaiser empfing am 5. d. den Gesandten von
Transvaal, Dr. Leyds, in Gegenwart des StaatSsecretärs
v. Bülow.
— Björnson veröffentlicht in der Neuen Freien Presse
einen langen Brief, worin er sagt, daß er die vom Reichs-
kanzler Fürsten Hohenlohe dementirten Aeußerungen über
die Dreyfussache von Lenbach gehört und theilweise irr-
thümlich dem Fürsten zugeschrieben habe, was Lenbachs
eigene Bemerkung gewesen sei. (An diese Affaire hat sich
bekanntlich ein Prozeß geknüpft; ein bayerisches Blatt hat
Björnson wegen seiner — wie nun erwiesen — irrthüm-
lichen Aussage scharf angegriffen und ist deshalb von ihm
verklagt worden. Politisch ist die Sache durch die Erklärung
Björnsons nunmehr erledigt.)

Nur frisch gewagt.
Eine heitere Garnisongeschichie von Hugo Dinkelberg.
(Fortsetzung.)
Der Gefreite Schwarz hatte richtig gehört, des Bürgcr-
Msiers Töchterchen hatte in der Thal zu der Tochter des
Mru Obersten schon von „Ihm" gesprochen, aber nicht hier
Jsinn, allüberall, wo nur immer in der kleinen Stadt die
vcyter des Stadttyrannen hinzukommen pflegte, und wieder-
j^.uicht nur dieses städtische Töchterlein, auch viele andere
tö^. Ulanen-Garnison athmende und schmachtende Evas-
ixl« . hatten bereits seit mehreren Wochen nur das Wörtlein
Herzen und auf den Lippen. So lange die jungen
d. E?n Mädchenköpse zu denken vermochten — und sie
snÄ - theilweise schon einige dreißig Jahre —, war ein
(wes „Ereigniß", den Worten Ben Akiba's entgegen, „noch
klein ^wesen." Mag auch jeder Osficierswechsel in einer
Garnison als ein Ereigniß angesehen werden, und
das Hauptthema in den Gesprächen aller Spieß-
ansi A «"ch Stammtisch und aller Frauen und Jungfrauen
b°n^5^ktlsch bilden, gegen den in unserer Ulanen-Garnison
M,i?'tehenden Wechsel wurden alle früheren undankbarer
die 'n Ersessen; denn des Bürgermeisters Töchterchen und
die°n,°n"?E Schaar ihrer schweigsamen (?) Freundinnen hatten
tvaßv n ^findig gemacht, daß der neue Rittmeister ein
Kalbgott sein müsse.
der ^.Nachmittage desselben Tages, in dessen Frühstunden
dors^^aade-Lieutenant und Regiments-Adjutant von Secken-
und «arien Ankömmlings wegen schon so viele Freude
wi: Berger und Verdruß gehabt hatte, saß um einen
Und gewaltig großen Kanne, Tellern und Tassen, Kuchen
und rsi?" Aen besetzten Tisch herum eine überaus lebhafte
vom Sprechen erregte Damengescllschaft.
schöne eZEräumige Zimmer, welches so glücklich war, diese
wohm,„„ 'ellschast zu umschließen, gehörte zu der Dienst-
Vo t-Ug hvKsten Postbeamten rm Orte, des kaiserlichen
-lvar^Vetärs Blechstein. Hie und da in der Stadt war
iwon öfters — natürlich unter dem Siegel der größten

Verschwiegenheit — darüber geflüstert und getuschelt worden,
daß Herr Blechstein eigentlich gar kein richtiger Secretär sei
und daß ihm dieser Titel ganz unverdienterweise gezollt
würde, aber man kannte ihn nun einmal so, und Herr Blech-
stein galt im Orte als eine zu einflußreiche Persönlichkeit,
als daß es die bösen Verleumder und Verleumderinnen ae-
! wagt hätten, ibn oificiell des Secretärs-Titels zu entkleiden.
Auch wußten ja die Frau Steuer-Sccretärin, Frau Calcula-
torin, Frau Doctorin. Frau Amtmännin, welche alle noch
kein Patent für ihre Chargen erhalten batten und auch wohl
niemals bekommen würden, daß die Frau Post-Secretärin
von dem Augenblicke an, wo man sie zur Frau „Postamts-
Assistentin" oder gar zur einfachen Frau Blechstein degra-
diren würde, ohne Gnade auch alle anderen Titel und
Würden nicht mehr beachten und in Zukunft zu der Frau
Steuer-Seccetärin, der Frau Calculatorin, der Frau Doctorin
i und der Frau Amtmännin nur Frau Mayer, Frau Schultze,
Frau Müller und Frau Lehmann sagen würde.
Der sitzenden Damen in der Gesellschaft waren elf, der
stehenden und laufenden vier, und zwar die Frau Postiecre-
tärin und ihre drei Töchter, welche in dem schönen Kreise
die Honneurs des Hauses machten, bald die große Kanne,
i bald den Milchtopf, bald die Zuckerdose, Kalo die Kuchenteller
! erbebend und sie unter den dringendsten und herzlichsten
Birten, sich doch bedienen und ja nicht geniren zu wollen,
den sitzenden Damen darrcichend, wobei das entschiedene Ab-
lehnen stets mit einem Scheltworte und verbindlichen Lächeln,
das Nehmen stets mit einer sauer-süßen Miene und einem
Worte des Lobes begleitet wurde. Auf Grund der vorstehen-
den Zablenangaben hätten also fünfzehn weibliche Wesen in
dem Gesellschaftszimmer oder in der „guten Stube" der Frau
Postsecretärin sein müssen, es waren jedoch sechzehn Personen
und die Zugabe zu der Mandel war nicht die werthloseste
unter ihnen, es war dies die Tochter des Herrn Bürger-
meisters, die „Erste" in diesem Kreise, welche man zur Zeit
aber weder zu den sitzenden, noch zu den stehenden Damen
rechnen konnte; denn Fräulein Aurora Feuerstahl befand sich
in halb sitzender halb stehender Haltung. Im Feuer der Be-

geisterung hatte sie sich von ihrem Stuhle etwas erhoben, sie
theilte der Gesellschaft, stolz darauf, daß sie wiederum die
erste Verkündigerin sein konnte, in übersprudelnder Rede das
Neueste mit, was sie über „Ihn", den neuen Rittmeister, in
Erfahrung gebracht hatte. „Ja, meine Damen," sprach sie
mit erhobener Stimme und Kaffeetasse. „Er ist ein Mann,
wie cs wobl keinen zweiten in unserer Armee giebt! Er ist
der kühnste Reiter Europas, der tapferste Mann der Welt!
Bei Düppel rettete Er dem Prinzen Friedrich Carl das Leben,
bei Königgrätz, ganz allein in die Mitte eines österreichischen
Cürassier-Regiments gerathen, schlug er sich durch und nahm
dabei noch einen Offizier und zwei Gemeine gefangen, bei
Gravelotte war Er der Erste bei dem wilden Ritt der Bre-
dow'schen Todesschaar, und bei Sedan vernichtete er mit
einem Zuge seiner Schwadron ein ganzes Regiment Turkos
und eroberte zwei französische Batterien. Und beute, heute
Abend, meine Damen, heute Abend 8 Uhr wird Er hier ein-
treffen, wird Er Mitglied unserer Garnison sein, Er, der
Liebling des Kaisers, der beste und intimste Freund unseres
Kronprinzen!"
„Heute? heute Abend kommt Er?' — „Der Liebling des
Kaisers?" — „Ist das wirklich wahr?" — „Der intimste
Freund des Kronprinzen? — „Ob, das muß ja ein seltener,
ein herrlicher Man sein." — „Kommt Er denn wirklich?" —
Diese und Hundert anderer, aber ähnlicher Aeußerungen
durchschwirrten, durchklirrten und durchschmetterten — die
Frau Provinzial-Steuer-Secretärin hatte eine an das Schmet-
tern einer Trompete erinnernde Stimme — im wilden Durch-
einander den postalischen Gesellschaftssalon, die Aufregung
unter sämmtlichen anwesenden Damen, jungen und alten,
war auf das höchste gestiegen, und Fräulein Aurora Feuer-
stahl, welche sich jetzt vollständig von ihrem Stuhl erhoben
halte, stand als die Verkündigerin der neuesten Nachricht
triumphirend inmitten der jetzt von allen Seilen auf sie mit
Fragen der verschiedensten Art einstürmenden Damen da.
(Fortsetzung folgt.)
 
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