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Heidelberger Zeitung — 1898 (Juli bis Dezember)

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Nr. 281 - 306 (1. Dezember 1898 - 31. Dezember 1898)
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Sonntags ausgenommen.
Dreis
mit Familienblättern
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.frei in's Haus gebracht.
^urch die Post bezogen
Vierteljahr!. 1.25
^schließlich Zustellgebühr.
^elephon-Arrschluß Nr. 82.

WelbeM ZkitW.

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Petitzeile oder deren Raum
Für hiesige Geschäfts- und
Privatanzeigen bedeutend
ermäßigt.
Gratis-Anschlag
der Inserate auf den Plakat-
tafeln der Heidelb. Zeitung
und den Plakatsäulen.
Telephon-Anschluß Nr. 82.

Nr. 2S5. Zweites Klatt.
Was kostet das Leben in New-Uord?
Ein New-Iorker Korrespondent schreibt dem Berliner
Tageblatt:
Die Thatsache, daß New-Aork, wie man sagt, ein
»theures Pflaster" ist, war schon lange bekannt, interessante
Einzelheiten über die Kosten der Haushaltung daselbst sind
aber eigentlich erst in den letzten Wochen publik geworden,
Ko sich eine öffentliche Diskussion der Frage entwickelte,
°b eine Familie mit bürgerlichen Lebensansprüchen in
New-Jork mit jährlich 5000 Dollar (— 21000 Mark)
Auskommen könne oder sich damit einem unlösbaren
Problem der Privatökonomie gegenübergestellt sähe. Es
laben sich nun mehrere Hausfrauen gefunden, die seit
Jahren genau Buch und Rechnung geführt und dadurch
estgestellt haben, daß es — wenigstens bei einer beschei-
denen Wohnung in der Vorstadt — möglich ist, mit
2500 Dollar alle normalen Ausgaben eines Familien-
haushalts zu bestreiten, vorausgesetzt, daß die Familien-
Autter im Stande ist, nicht nur selbst die Küche äußerst
Meckmäßig zu dirigiren, sondern auch die Kleiderstoffe mit
solchem Geschick einzukaufen, daß dieselben der Reihe
Nach von mehreren Angehörigen zu verschiedenen Be-
kleidungsstücken verwandt werden können. Da man
aber leider zum Ruhme einer amerikanischen Lady
weit eher aussagen kann, daß dieselbe es versteht,
diel Geld auszugeben, als sparsam damit hauszuhalten,
so begreift sich, daß die Meisten der Ansicht zuneigen, zu
einer bürgerlichen Existenz seien 5000 Dollars erforderlich,
und deshalb lieber auf das theure Vergnügen, zu heirathen,
verzichten. Im Allgemeinen kann man die Bevölkerung
der großen amerikanischen Metropole in folgende 4 Klassen
eintheilen: 1. Die große Masse, die im Jahre 1500 Doll,
oder weniger einnimmt und infolge dessen eine rein prole-
tarische Existenz führt; 2. der Mittelstand, der sein Ein-
kommen auf 1500—5000 Dollars beziffert und dabei
allerdings sehr genau zu rechnen verstehen muß, wenn er
nicht in Schulden gerathen will; 3. die „Gesellschaft" von
New-Jork, bei der man erst mit 60 000 Dollars Jahres-
einkommen „hoffähig" wird, und endlich 4. die „oberen
Vierhundert", die ihren „Werth" mit 9-, wo nicht mit
lOziffrigen Zahlen zu bemessen pflegen. Wie dabei die
„gute Gesellschaft" ihr Geld noch zusammenhalten muß,
Uw mit 60 000 Dollars (also ein Viertel Mill. Mark) ans-
zukommen, hat eine Nächstbetheiligte jüngst im New-
Aork Herald nachgewiesen. Ihren Aufzeichnungen sind
folgende Einzelheiten entnommen: Die Wohnung in
New'Iork kostet j 6000 Dollars, außerdem werden eine
Villa auf dem Lande, ein Quartier in einem Bade sowie
in dem Winterplatze Aiken in Süd-Karolina benöthigt. Die
Kleidung der Dame nebst ihren beiden Töchtern erfordert
mindestens 8000 Dollars, das Telephon 100 Dollars, die
Küche 500 Dollars und die „Charity" (Wohlthätigkeits-
bazare) ungefähr ebenso viel. Sehr theuer stellt sich der
eigentliche Haushalt, da der Haushofmeister allein 75
Dollars, der Koch 50 Dollars und die übrigen zwölf
Domestiken entsprechende Monatslöhne bis zu 25 Dollars
abwärts beziehen, und die Equipagen viel Geld kosten.
Auch die „Unterhaltungen" verschlingen viel. Unter anderem
kostete ein kleines Fest, das die älteste Tochter ihren 150
einhundertfünfzig — „Freundinnen" veranstaltet hatte,
allein 800 Dollars. Bleiben noch alle Reisen, das Theater
und die sonstigen tausend Kleinigkeiten, die überhaupt das
Leben erst erträglich erscheinen lassen. Ist es da nicht
wirklich ein Kunststück, mit lumpigen 60 000 Dollars im
Jahre wirklich auszukommen, anstatt wie so viele andere
vornehme Damen standesgemäß Schulden zu machen?

SawstW, den 17. Amwdcr

1898.

Deutsches Reich.
Preußen. Posen, 12. Dec. In das Ansied-
lungsgeschäft, das den Ostprovinzen einen zahlreicher»
Bauernstand verschaffen soll, theilen sich mit der staatlich
subventionirten königl. Ansiedlungskommission zu Posen
namentlich die Berliner Landbank und eine von Polen für
Bcsiedlungszwecke gegründete Bank. Daneben sind zahl-
reiche Privatunternehmer mit dem Ankauf und der Parzel-
lirung größerer Güter eifrig beschäftigt. Da bisher ein
großer Zufluß von Ansiedlern stattfand, sich auch die land-
wirthschafllicheu und sonstigen Erwerbsverhältnisse für die-
selben neuerdings recht gut gestalteten, so haben sich die
Bodenpreise im Ansiedlungsgebiet ganz allgemein wesentlich
gehoben. Zu den niedrigen Preisen, wofür man noch vor
zehn bis zwölf Jahren polnische und deutsche Güter in
Unzahl kaufen konnte, ist jetzt nirgends mehr besseres, zur
sofortigen Besiedlung geeignetes Land zu kaufen. Man
darf annehmen, daß sich der Bodenpreis für besseres
Kulturland seit 10 Jahren um mindestens 50 pCt. gehoben
hat und ein weiteres Steigen ist unverkennbar. Trotzdem
ist im Osten für einen tüchtigen, kapitalkräftigen Land-
wirth — für weniger Bemittelte durch die königliche An-
siedlungskommission in Posen — noch recht viel zu ver-
dienen. Zuckerrüben- und Gerstenboden 1. Klasse, in näch-
ster Nähe von Zuckerfabriken, für den man bei Halle und
Magdeburg gern 800—1200 Mk. für den preußischen
Morgen zahlt, kann hier noch immer mit 300—400 Mk.
gekauft werden, während gutes Roggen- und Kartoffelland
hier sogar erst 150—180 Mk. kostet._
Vermischtes.
— (Der Dichter als Millionär.) Der verstorbene
Schweizer Dichter Konrad Ferdinand Meyer versteuerte bis zu-
letzt sein Vermögen mit 1137 600 Frcs. Jetzt, nachdem die In-
ventar-Aufnahme erfolgt ist, soll sich der Vermögensstand des
verstorbenen Dichters als bedeutend größer herausgestellt haben,
so daß wegen „widerrechtlichen Steuereutzuges" eine große Nach-
besteuerung erfolgen mutz. Vor einem Jahre setzte die Steuer-
kommission Meyer auf 1190000 Frcs. Er rekurrirte und der
Steuersatz verblieb beim Alten.
— (Aus dem Leben eines Journalisten.) Die
Wiener Arbeiterzeitung berichtet über folgenden Fall: Am 26.
April d. I. hielt der Königgrätzer Bischof Brynych im Dorfe
Sopcic einen feierlichen Einzug, um dort die Firmung und
Generalvisitation der Pfarre vorzunehmen. Mit Kirchengeläut
zog ihm die Geistlichkeit in einer Prozession entgegen. Nach der
Einholung des Bischofs, der im Reiseanzug war, segnete er auf
Bitte des Pfarrers die auf der Straße befindliche Menge. Plötz-
lich ertönte Geschrei: „Das ist ein Jud oder ein Helvet?"
Der Redakteur eines radikal-czechischeu Blattes in Horitz, Johann
Vlassak, hatte den Hut im Augenblicke der Segenspendung
nicht abgenommen. Vlassak stand seitwärts und machte Notizen.
Beim Kreisgericht Gitschiu wurde Vlassak zu sechs Wocheu
strengen Arrestes mit einem Fasttag in jeder Woche
veruitheilt, weil er aus politischer Gehässigkeit den Hut demon-
strativ bei einer kirchlichen Handlung nicht abgenommen hatte und
dadurch „öffentliches Aergerniß" erregte. Vor dem Kassations-
hofe bekämpfte der Vertheidiger dieses Urtheil damit, daß der
Angeklagte fernstaud und als Konfessionsloser nicht verpflichtet
war, eine besondere Ehrerbietung zu erweisen. Aergerniß sei
nicht mit religiösem Hasse zu verwechseln, den die Priester
durch den Ruf: „Das ist ein Jud oder Helvet!" bethätigten.
Vlassak habe nach dem Staatsgrundgesetz das Recht gehabt, an
einem öffentlichen Orte sich aufzuhalten. Eine Ehrung unter-
lassen, heiße noch nicht unanständig sein. Wenn man wegen der
Nichttheilnahme an einer religiösen Handlung Andersgläubiger
seinen Klienten verurtheile, so würde man in die Zeit vor 1848
und vor Schaffung der Staatsgrundgesetze sich zurückversetzt
glauben. Der Kassationshof bestätigte das Urtheil des Kreis-
gerichtes Gitschiu, da er Angeklagte sich bei einer öffentlichen
Religionsübung durch das Nichtabnehmen des Hutes nicht so
benommen habe, wie es das Gebot der Sitte und das Her-
kommen verlange._
Literarisches.
Von der Lebensreise. Leipzig, Verlag von
Julius Baedecker. Unter diesem Titel hat der durch seine Be-

strebungen auf dem Gebiet der Frauenbilduug in den weitesten
Kreisen Deutschlands bekannte Töchterinstituts - Direktor Karl
Weiß in Weimar vor Kurzem zu seinem 50jährigen Lehrer-
jubiläum eine Reihe von eigenen Dichtungen erscheinen lassen,
die, von keinem Geringeren als Carriere und Geibel ausgewahlt,
seit Jahren zum Druck bereit lagen. Sie vereinen ungewöhnliche
Formbegabung mit gereifter dichterischer Lebens- und Welt-
anschauung; die ideale Gedankenwelt des Verfassers, seine sinnige,
jeden einzelnen Vorgang des realen Lebens durch symbolisirenden
Vergleich in eine höhere Sphäre erhebende, geistvolle Auffassung
und der warme Gemüthston der sprachschönen Verse und
Strophen werden auch weit über die Kreise der zahlreichen
Freunde von Karl Weiß hinaus bei der literarischen Kritik die
verdiente Werthschätzung finden. Das in allen Schriften des
Verfassers zu Tage tretende Bemühen zur Hebung der Frauen-
welt durch Gemüth- und Charakterbildung, in innerlichem Werth
und praktischer Arbeit erhebt sich in dieser Schrift zur Höhe
wahrer Poesie und spendet Helle Goldkörner echter Lebens-
weisheit. So bilden diese Gedichte eine werthvolle Festgabe für
die denkende Frau und Jungfrau.
—Z Ein Lehrbuch der Vereinfachten deutschen
Stenographie (Etnigungssystem Stolze-Schrey) von Wtlh.
Arens ist soeben in dem Verlage von Ch. Th. Groos, Heidelberg,
erschienen. Das Buch eignet sich für den Schüler zum Unterricht
mit Hilfe des Lehrers, sowie auch zum Selbstunterricht, da es in
leichtfaßlicher Form zusammengestellt ist. Der Preis für dieses,
Jedem, welcher sich für Stenographie interesstrt, nützliche Buch
ist ein äußerst billiger, da er nur 30 Pfg. beträgt._
Derloofungen.
Der erste Hauptgewinn der W e i m a r - L o t t e r i e im Be-
trage von 50000 Mk. fiel auf Nr. 103105, der zweite Haupt-
gewinn im Betrage von 10000 Mk. auf Nr. 421221._
Für die Redaktion verantwortlich: F. Mantua in Heidelberg.

xxx. Vor kurzem ist von einem berühmten Augenarzt, dem
Dr. De Bourbon am Konservatorium der Künue und Gewerbe
in Paris, ein sehr interessantes Experiment mit Röntgenstrahlen
vorgenomwen worden. Dasselbe hat ergeben, daß gewisse der zu
Brillengläsern verwendeten Glassorten die Röntgenstrahlen nicht
durchlassen. Dieses Experiment weiter fortsetzend, ist man zu
dem Schluffe gekommen, daß infolge dessen auch die von ver-
schiedenen Praktikern als mit den Röntgenstrahlen identisch an-
gesehenen ultravioletten Strahlen von der Netzhaut des Auges
ferngehalten werden und würde dies ferner zur Folge haben,
daß dis" dem Auge schädliche Fluoreszenz auf der Netzhaut ver-
mieden wird.
Das in Vorstehendem erwähnte Experiment ist mit den auch
in unserer Stadt bereits bekannten Jsometrope-Gläseru
gemacht worden und würde dazu beitragen, die schon so vielfach
beobachtete Thatsache zu erklären, daß die Jsometrope-Gläser
tragenden Personen beim Gebrauche derselben ein außerordentlich
wohlthuendes Gefühl auf die Augen verspüren.
Ein Depot der I s o m e t r o p e - B r i l l e n g l ä s e r be-
findet sich in dem Optischen Institut des Herrn HVILIi. l?kLlk,
Heidelberg, Hauptstraße 63. I-.

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ilauptstrssss 124.
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kdatoxrapklsn »Iler Litnclsr. llsläslderxsr -Insiodtvn vmÄ
Italien -Mein ükor 1000 Matt. lLrlnnsrauxsN.
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Feinste Ausführung. Reelle Bedienung.

Das „Bischen."
3) Weihnachtserzählung von Zo8 v. Reuß.
(Fortsetzung.)
II.
Der Winter, der „Lenz der Städte", schritt weiter und
brachte fast tägliche Zerstreuungen. Da Olga aber wenig
Lust zum Ausgehen zeigte und dazu das Weihnachtsfest mit
seinen Vorbereitungen heranrückte, blieb man viel daheim
und empfing daselbst nur den Besuch der intimern Bekannten.
Auch Hauptmann Mittendorf erschien einmal, zum Fünsuhr-
tbee. Regierungsassessor von Beerenberg batte nur einen
„Quittungsbesuch" gemacht, bald nach dem Balle und seine
Karle zurückgelassen. Von Dr. Beyer erfuhr man nur durch
Zeitungsannonce, daß er sich in einer Fabrikvorstadt als Ar-
men- und Kassenarzt niedergelassen hatte.
Die Präsidentin war Vorstandsdame eines Wohlthätigkeits-
vereins und hatte alle,Hände voll zu thun. Anfang Dezember ward
ein Bazar veranstaltet, mit den jungen Damen der Gesell-
schaft als Verkäuferinnen. Olga verkaufte Puppen, von der
eleganten, rosengeschmückten Balldame und der Braut
im Myrthenkranz und Schleier bis zur buntbemalten Holz»
puppe herab, die ihr Butterfaß rührt. Auch Herr v. Beeren-
berg fand sich ein und versuchte Eindruck zu machen, nach-
lässig und berechnend zugleich. Daß Olga vor anderen ge-
feiert war, als jugendliche Schönheit und als Dame der
Gesellschaft, schien ihn vorzugsweise anzuziehen. Aber Olga
war gefeit — sie dachte an Bischen. Ohne daß sie sich dessen
bewußt, war ihr die kleine, feinfühlige, kluge Näherin eine
Lehrmeisterin geworden. Die Weihnachtsthätigkeit war ihr
überhaupt dieses Jahr ganz besonders willkommen, es fand
sich dabei absolut keine Zeit, sich mit sich selbst zu beschäf-
tigen. Es gab Sammellisten zu prüfen, Einkäufe zu machen
und Rechnungen zu bezahlen und den,, eine wäre olla potriäa
von Wollstrümpfen, Pulswärmern und Kopftüchern darstellen-
den „Vereinskorb" der Präsidentin immer von neuem zu
füllen und zu leeren. Nur an Doktor Beyer dachte Olga zu-
weilen mit bösem Gewissen. Warum kam er nicht, da er

doch zu den intimern Freunden des Hauses gehörte? Hatte
er ihre Mogelei erfahren? Sie begann sich zu schämen und
zu ärgern, daß sie unwahr gewesen war, besonders dem
Manne gegenüber, den sie doch schätzte und achtete.
Einige Tage vor dem Feste kam Bruder Felix von der
Universität und mit ihm neues Leben in's Haus. Er neckte
sich mit aller Welt, am meisten mit „Bischen," die jetzt täg-
lich arbeitend im Hinterzimmer saß.
„Drücken Sie nur, Bischen, die Kanne aiebt schon noch
her! Alte Jungfern, ach herrsch, trinken alle gern Kaffee!"
lachte er jeden Morgen, wenn sich Hannchen die siebente
Tasse ein'chenlte.... Da blieb die kleine Näherin eines
Tages aus, es war zwei Tage vor dem Weihnachtsfeste. Da-
für kam Mittags ein Zettel, kritzlich mit Bleistift geschrieben,
daß sie am vorhergehenden Abend auf dem Glatteis gefallen
sei und ein Bein gebrochen habe.
Die Nachricht begegnete im Familenkreise allseitig der
Wärmsten Theilnahme. Die Präsidentin ordnete sofort eine
regelmäßige Verpflegung der alten Hausfreundin an, und
Olga nahm sich vor, dieselbe oft zu besuchen. Dennoch war
es heiliger Abend geworden, bevor der erste Besuch zur Aus-
führung kam, das Weibnachtsfest nahm alle verfügbare Zeit
in Anspruch. Die Weihnachtsbescheerung wollte das junge
Mädchen der allen Freundin aber unter allen Umständen per-
sönlich überbringen.
Der kurze Wintertag dunkelte bereits, als Olga die be-
lebte Straße hinabschritt, hinter sich das Mädchen mir dem
reichgefüllten Korbe. Der Menschenstrom flulhete immer
stärker: immer freudiger, weihnachtlich froher, überströmen-
der entwickelte sich die Stimmung. Alles sah man wetteifernd
im Glanz und Licht, die Weihnachtskerzen, die strahlenden
Augen der frohlockenden Kleinen, und droben die stillen
Sterne! Wer hatte der Seligkeit heute mehr, der Himmel,
die Erde? . . . Auch Olga war es wunderbar leicht um's
Herz. Sie hatte in letzer arbeitsreicher Zeit wenig an ei-
genes Behagen, überhaupt nicht an sich gedacht, und war doch
so glücklich gewesen. Sie fühlte sich plötzlich innerlich ver-
wandt mit Bischen. Und jo klang der Gruß, mit dem sie
Hannchen anredete, fast schwesterlich herzlich, und die Trostes-

worte die sie sprach, veranlaßten das arme Geschöpf zu über"
strömenden Dankeslhränen. Hannchen hatte lebenslang be-
scheiden und entbehrend bei Seite gestanden, und alles, was
sie geleistet und gethan, war andern Leuten nur „ein bischen"
gewesen, sodaß Hannchen selbst dabei zum Bischen geworden
war. Und nun sah sie sich doch mit einemmale anerkannt
und geliebt. Fast widerwillig duldete sie es, daß
Olga den Bettschirm dicht ans Bett schob, um dahinter die
Weihnachtsbescheerung auszubreiten. Hannchens Nähtisch war
mit einem weißen Tuche bedeckt und dieGeschenke waren darauf
geordnet: ein schwarzes Kircvenkleid, ein warmes Kopftuch,
eine Photographie von Olga, Christstollen mit vielen Rosinen,
Wein und selbstgebackenes Marzipan. Dazu ein kleiner Christ-
baum, den Olgas Bruder geputzt hatte . . . Als das junge
Mädchen eben das letzte Lichtlein anzünden wollte, klopfte es
an die Thüre und Doktor Beyer trat in die Stube.
„Fräulein Olga, paräoo, gnädiges Fräulein, Sie hier?"
Ich bin verwundert, nein, nicht verwundert, ganz und gar-
nicht — nur erfreut!" rief er ihr laut entgegen.
Das junge Mädchen hatte unwillkürlich dem Doktor beide
Hände entgegengestreckt, wie einem alten ergrauten Freunde.
Es war ihre einzige Antwort.
Der Doktor war auch vollkommen zufrieden damit und
schüttelte sie tüchtig, dazu schossen die kurzsichtigen, aber haar-
scharfen Augen hinter den Brillengläsern bervorleucbtende
Blitze. Dann sagte er: „Es geht unserer Patientin gut, ver-
hältnißmäßig natürlich, ich kann Sie beruhigen!" Dann trat
er zu Hannchens Bett, prüfte die Beschaffenheit des Gyps-
verbandes und verbesserte sehr geschickt die unbequeme Lage
der Kranken. Dann zog er sein Taschentuch hervor, riß einen
großen Zipfel ab, um eine tüchtige Schramme gleichfalls zu
verbinden, welche sich die kleine Näherin auch bei ihrem Falle
zugezogen hatte. Dabei sagte er lächelnd: „Wenn ich einmal
eine Frau haben werde, muß sie durchaus immer für einen
großen Vorrath von Taschentüchern für mich sorgen. Ein
Armenarzt kann garnicht genug besitzen von diesem nothwen-
digen Toiletteartikel, zum Verbandzeug nämlich —"
(Fortsetzung folgt.)
 
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