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Heidelberger Zeitung (43) — 1901 (Januar bis Juni)

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Nr. 51-76 (1. März 1901 - 30. März 1901)
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in herzlichen Worten gehaltener Trinkspruch ausgebracht,
der mit lebhaften Hochrufen aut Frankreich begrüßt wurde.
Lord Salisbury kam in seiner Rede, wie weiter berichtet
wird, auch auf die deutsch-englische Rivalität auf dem Ge-
biet des Handels zu sprechen und sagte, das Gespenst
Deutschlands könne die Führung Englands auf diesem
Gebiet nicht erschüttern, noch es dazu bewegen, an den
Kräften des Landes zu verzweifeln. „Ich glaube", sagte
der Redner, „daß alles, was wir von den Deutschen und
ihrer angeblichen uns so sehr schädigenden Rivalität hören,
nicht den thatsächlichcn Verhältnissen entspricht, sondern
seinen Ursprung mehr erfindungsreichen Zeitungsschreibern
verdankt, die Artikel in diesem Sinne abzufassen haben."
(Sollte die Sache wirklich so „einfach" sein? Die Red.)
Amerika.
Die Pest in San Franzisko. Aus Washing-
ton wird unter dem 11. d. M. gekabelt: Eine von
Staatswegen nach Ueberwindung vieler Schwierigkeiten
angestellte Untersuchung hat plötzlich ergeben, daß in
San Franzisko seit längerer Zeit bereits Fälle von asiati-
scher Pest vorgekommen, und daß der Umfang der Seuche
bereits Besorgnis erregt. Das Staats-Departement hatte
schon seit längerer Zeit auf Grund einer Eingabe der
Westlichen Staaten, daß der Staat Kalifornien unter
Gesundheitsaufsicht gestellt werden möchte, eine Unter-
suchung angeordnet, obwohl die kalifornischen Behörden
auf das entschiedenste das Vorkommen von Pest ab-
leugneten. Es ist bezeichnend für amerikanische Zustände,
daß nicht nur die städtischen Behörden, sondern auch die
höchsten Behörden des Staates von San Franzisko bet
dieser Ableugnung beharrten und im Stande waren, die
gesamte Presse Kaliforniens in diesem Sinne zu beein-
flussen. All das aus Furcht, Kaliforniens Handel könne
leiden, und besonders der Transportdienst für die Truppen
auf den Philippinen von San Franzisko verlegt werden.
Der Schatzsekretär Gage sandte einen eigenen Ausschuß
(ihm untersteht der Marinekrankendieust), und dieser deckte
die Thatsache auf. Die Staatsbehörden Kaliforniens
thaten alles, um diese Untersuchung zu hintertre-ben, und
gingen sogar so weit, bei dem Präsidenten Mac Kinley
gegen den Staatssekretär Gage vorstellig zu werden, und
selbst der Gouverneur Kaliforniens legte gegen die „un-
befugte Einmischung" Verwahrung ein.
Aus Stadt und Land.
Heidelberg, 16. März.
* Prozeß Weipert. Mit unserer Berichterstattung über
den Prozeß Weipert haben wir uns so eingerichtet, daß wir noch
in dem gestrigen Blatte über den Anfang der Verhandlung bis
zur Pause um 11 Uhr berichten konnten. Den Bericht über den
Schluß der Vormittagsfitzung und über einen Teil der Nach-
mittagssitzung haben wir hier in einem Sonderblatte ver-
öffentlicht, das Abends um halb 8 Uhr ausgcgeben wurde.
Im heutigen zweiten Blatt werden diese Teile des Berichtes
wtedeiholt, damit sie in die Hände aller Leser kommen und außer-
dem Wird der Bericht ein Stück weitecgeführt. Der Schluß
findet sich im ersten Blatt. Da der Bericht während der Sitzung
so geschrieben worden ist, wie er im Druck erschienen ist, bezw.
erscheint, wird der geneigte Leser über kleine stilistische u. s. w.
Unkorrekthelten gerne hinwegsehen.
Der Heidelberger Lawn-Tennis-Klnb eröffnet heute die Spiel-
faison für 1901. Es wird zunächst auf 3—4 Plätzen gespielt
werden.
ch Den Theaterbericht müssen wir infolge mangelnden Raumes
zurückstellen. Erwähnt sei nur, daß Frl. Herter in der Dar-
stellung der Claire im „Hüttenbesitzer" gestern einen großartigen
Erfolg hatte und mit Lorbeer und Blumen überschüttet wurde.
Eine ausgezeichnet ausgeglichene Leistung bot Herr Rudolph
als Philippe Derblay.
ül Schöffengerichtsfitznng vom 11. März. 1) Ludwig Forschner
aus Wieblingen, z. Zr. in Haft hier, erhielt wegen Diebstahls
4 Wochen Gefängnis, 2) Philipp Wallmanach aus Niederingel-
heim, z.Zt. in Haft hier, wegen Diebstahls 4 Wochen Gefängnis,
3) Alois Neumayer aus Augsburg, z. Zt. in Haft hier, wegen
Diebstahls 5 Tage Gefängnis, 4) Wilhelm Schmitt von Jttlingen,
z. Zt. in Haft hier, wegen Diebstahls 8 Wochen Gefängnis,
5) Johann Hetlinger aus Dossenheim, z. Zt. in Haft hier, wegen
Betrugs 3 Wochen und 3 Tage Gefängnis, 6) Johann Ullrich
Rückemann aus Leimen wegen Körperverletzung und Bedrohung
15 Geldstrafe bezw. 5 Tage Gefängnis. 7) Johannes Katzen-
berger aus Gauangelloch und Jakob Klingmann Ehefrau geb.
Arnold aus Epfenbach sind wegen Körperverletzung angeklagt;
Katzenberger wurde freigesprochen, die Ehefrau Klingmann erhielt
3V Geldstrafe bezw. 6 Tage Gefängnis. 8) Johann Friedrich
aus Waldkatzenbach wurde von der Anklage wegen Körper-
verletzung freigesprochen.
— Polizeibericht. Verhaftet wurde ein Hausbursche
wegen Kuppelei, zwei Kellnerinnen wegen Umherziebens und ein
Taglöhner wegen Unterschlagung; weiter wurden zwei Realschüler
aus Darmstadt, die von Schule und elterlicher Wohnung Reißaus
genommen, hier aufgegriffen. Wegen Unfugs kamen drei Per-
sonen zur Anzeige.
s. Handschuhsheim, 14. März. (Eine Taufe.) Auf das
Bittgesuch des Polizeidieners Johann Wernz hier übernahm
der Grobherzog in huldvollster Weise die Patenstelle bei
dem siebenten Sohne des genannten Vaters und gewährte als
Patengeschenk einen silbernen, innen vergoldeten Becher mit dem
badischen Wappen und dem Namenszug des Großherzogs. Heute
um halb 2 Uhr war in feierlicher Weise in der Kirche die
Taufe des Kindes, welches die Namen Friedrich Ludwig Wil-
helm erhielt. Um 2 Uhr überreichte aus Auftrag Großh. Be-
zirksamtes Heidelberg Bürgermeister Fischer in Anwesenheit
mehrerer geladener Gäste im Bürgersaale den Eltern des Kindes mit
geeigneten Worten das Patengeschenk, worauf Polizeidiener Wernz,
sichtlich gerührt, herzlichen Dank sa gte und auf unfern Großherzog ein
dreifaches Hoch ausbrachte, In welches die Anwesenden begeistert
einstimmten. Die Fortsetzung der Festlichkeit war in der Bier-
brauerei Lenz. Es wurde an den Großherzog folgendes Tele-
gramm abgeschickt: Die bet Uebergabe des von Ew. Königlichen
Hoheit allergnädigst gewährten Patengeschenks für den 7. Sohn
des Polizeidieners Johann Wernz anwesenden Gäste sprechen zu-
gleich mit den Eltern des Kindes Ew. König!. Hoheit unter,
thänigsten Dank und die Versicherung unverbrüchlicher Treue aus.
Namens der Versammlung: Der Bürgermeister: Fischer.
1». Kirchhetm, 16. März. (Grober Unfug) Mit einer
Droschke hielten gestern Abend 6 Uhr an einer nahe dem
Bahnhof gelegenen Wirtschaft mehrere bei der Musterung ge-
wesene junge Burschen, die sich in die Wirtschaft begaben.
Gleich darauf folgte ihnen der Kutscher nach. Kaum hatte
sich dieser von seinem Fuhrwerk, welches dem Droschken-
besitzer Fritz Sepptch gehört, entfernt, als zwei Milizen
sich des Fuhrwerks bemächtigten und in aller Eile Rohrbach zu-
kutschierten. Halbwegs dieser Fahrt fuhren die jungen Leute in
ein Ackerfeld, wobei die Pferde zu Fall kamen und die Droschke

erheblich beschädigt wurde. Der Schaden wird wohl ersetzt, hof-
fentlich aber auch den übermütigen Herren noch ein gehöriger
Denkzettel beigefügt werden.
8.8. Ruith bei Breiten, 15 März. (Unfall.) Ein gräß.
licher Unglücksfall machte gestern einem jungen blühenden Leben
ein jähes Ende. Der in der Mößner'schen Mühle beschäftigt«
Müllerbursche Christian Vollmer aus Stein (Amt Breiten) wollte
gestern Mittag das Räderwerk der im Gange befindlichen Mühle
ölen. Bei dieser Gelegenheit wurde der Bursche von einer Welle
erfaßt und um diese geschleudert, so daß der Kopf sofort an einem
Kammrad zerschellte. Der ganze Körper des Verunglückten ist
schrecklich zugerichtet und es war eine grauenhafte Arbeit, die
Körperteile aus dem Räderwerk herauszubringen. Der Familie
des Unglücklichen wird allgemeines Bedauern und Mitleid
entgegengebracht.
8. 0. Karlsruhe, 15. März. (Bürgermeisterwahl.) Die
Wahl eines zweiten Bürgermeisters findet am Mittwoch, den
20. März, statt: als Kandidat ist der bisherige erste Bürger-
meister Krämer in Aussicht genommen, der auch sicher ge-
wählt wird.
8. 6. Pforzheim, 15. März. (Unredlichkeiten.) Der
sozialdemokratische Londtagsabgeordnete Optfiztus und der
Leiter des hiesigen Lebensbedürfnisvereins der sozialdemokratische
Stadtverordnete G. Eberhard wurden, wie schon gestern kurz
gemeldet, wegen Unregelmäßigkeiten in der Geschäftsführung
dieses Vereins verhaftet, was viel Aufsehen in der Stadt erregt.
Daß in der Geschäftsführung dieses Vereins nicht alles klappe,
davon wird schon lange gemunkelt; es soll ein großer Fehl-
betrag vorliegen. Inwieweit die Verhafteten ein Verschulden
trifft, muß erst die vom Staatsanwalt bereits cingeleit-te Unter-
suchung ergebe». Es kann sich auch noch deren Unschuld Heraus-
stellen — immerhin fühlt sich die sozialdemokratische Partei,
welche nächstes Spätjahr den zwei en hiesigen Abgeordnetensitz
erobern will, von diesen Vorkommnissen sehr niedergeschlagen.
Dinglingen, 14. März. (Bran d). Gestern Abend
brannte das ganze Anwesen des hies. Landwirts Zipf vollständig
nieder. Vieh und einige Fahrnisse konnten gerettet werden. Das
Anwesen soll, wie man hört, schlecht versichert sein. Die sämtliche
Frucht, von der letztjährigen Ernte stammend, ebenso ein Ohm
Schnaps fielen den Flammen zum Opfer, doch wurde Wein ge-
rettet. Man vermutet Brandstiftung.
8.6. Freiburg, 15. März. (Unfall.) In Haltingen
stürzte der Handelsmann Zacharias Moser vom Zug. wobei ihm
der rechte Oberschenkel abgefahren wurde; er starb noch auf der
Ucberführung ins Krankenhaus.
8.8. Ueberlingen, 14- März. (Krankheiten.) In
der Lehrerbildungsanstalt Mecrsburg ist der Scharlach in solchem
Maße aufgetreten, daß auf Anordnung des Gr. Bezirksamtes die
Anstalt geschlossen werden mußte. Auch nimmt das Auftreten
von Diphterie in hiesigem Bezirk sehr überhand, was wohl der
ungesunden Witterung zuzuschreiben ist.
Das Heidelberger Eisenbahn-Unglück
vor Gericht.
(Unberechtigter Nachdruck verboten.)
IV.
Heidelberg, 15. März.
Nach Wiedereröffnung der Sitzung gegen 9 Uhr stellt
Rechtsanwalt Früh auf einen weiteren Beweisantrag
in der Richtung, daß Weiperts Gehirnfunktionen von
6 Uhr ab ihren Dienst eingestellt hätten infolge von
starker Anspannung in den fünf Stunden vorher. Er
habe einfach geistig versagt. Anders sei sein unnormales
Verhalten von dem Zeitpunkt an nicht zu erklären. Der
Verteidiger beantragt ein Gutachten der Professoren Kräpelin
und Erb. Der Gerichtshof lehnt den Beweisantrag ab.
Es ergreift nunmehr Staatsanwalt Sech old zur
Begründung der Anklage das Wort. Man hat Weipert
merkwürdigerweise im Publikum für einen Märtyrer
gehalten. Die Verhandlung hat seine volle Schuld
ergeben. Weipert hat ausgeruht den Dienst übernommen.
Sein Unglück beginnt mit dem Besuch des Andre, den er
zum Zeitvertreib zu sich einlud. Der Besuch hat seine
Aufmerksamkeit abgelenkt. Den Zug 16 a hat er an-
genommen, ihn aber nicht eingetragen, sondern sich sogleich
wieder zum Schalterkontrollieren begeben. Da hat er
den Zug vergessen und, da er ihn nicht eingetragen hatte,
sich auch nicht wieder daran erinnert. Er hat dann den
Zug 126 a in die Rubrik 16 a eingetragen und von diesem
Augenblick waren beide Züge für ihn ein Zug, der Lokal-
zug. Er hatte keinen Augenblick das Bewußtsein vom
Vorhandensein einer Gefahr. Mit der Durchbrechung des
Fundamentalsatzes, einen zweiten Zug nicht anzunehmen,
ehe der erste eingelaufen ist, ist er schuldig an dem Un-
glück geworden. Der Schlierbacher Assistent Zahn hat
thöricht gehandelt, aber er hatte wenig Zeit einen Ent-
schluß zu fassen, auch ist seine Intelligenz nicht groß.
Kausal hat er an dem Unglück mitgewirkt, aber eine
Voraussicht nicht gehabt und ist nicht als Mitschuldiger im
rechtlichen Sinne zu betrachten. Auch in betreff des Zug-
führers von 126 a ist eine Mitschuld nicht zu erweisen.
Der Stationsvorsteher Hoffmann ist auch nicht als mit-
schuldig anzusehen, aber aus seinem Verhalten ergtebt sich
eine Reihe von Milderungsgründen für Weipert. Hoffmann
hat es erheblich an der Beaufsichtigung des Weipert und
Unterstützung an jenem Sonntag fehlen lassen. Schlimm
ist ihm auch anzurechnen, daß er den Andre nicht fort-
gewiesen hat. Am schwersten ist ihm anzurechnen, daß er
Weipert nie gesagt hat, daß die Lokalzüge gelegentlich auf
offener Strecke halten. Die Frage nach der Mitschuld des
Regierungsrats Hartmann, ist mit nein zu beantworten.
Das Halten ist eine Unsitte, die alle Sachverständigen
mißbilligen. Wenn vorher nichts passiert ist, so beweist
das die Tüchtigkeit des Fahrpersonals. Einen so unreifen
jungen Burschen hätte man nicht allein in einen so
schwierigen Dienst stellen sollen. Weipert ist in seiner
bodenlosen Liederlichkeit schuld an dem Unglück. Der
Staatsanwalt beantragt 2 Jahre Gefängnis
unter Abrechnung der vollen Untersuchungshaft.
Rechtsanwalt Früh auf führt aus, daß mit Recht
die öffentliche Meinung gesagt habe, Weipert sei der wahre
Schuldige nicht. Sie hat sich gebildet unmittelbar nach
dem Unglück bei denen, die daran beteiligt waren. Schuld
ist, so wurde einstimmig gesagt, der stehende Lokalzug. Ein
großer Mechanismus kann niemals gänzlich fehlerlos funk-
tionieren. Mit unheimlicher Regelmäßigkeit treten die Ver-
Handlungen gegen Eisenbahnbeamte vor Gericht auf. Das
beruht auf einem mechanischen Naturgesetz. Das Strafgesetz

hat seine Bestimmungen in Rücksicht darauf gemildert.
Weipert hat allerdings einen Transport gefährdet, aber
nicht in strafbarer Pflichtvernachlässigung. Die Voraus-
setzung, daß er imstande gewesen sei, seine Pflicht in vollem
Umfange zu erkennen und zu erfüllen, trifft nicht zu. Die
Eisenbahnverwaltung scheint nur die handgreiflich auf-
tretenden Schadenfällen zu verbessernden Maßnahmen ver-
anlaßt zu werden. Da muß der Richter ein menschliches
Milleiden für den Mann empfinden, der ausersehen ist, der
Verwaltung zu zeigen, baß wieder eine Stunde abgelaufen und
ein Fortschritt nötig ist. Die Ausbildung des Weipert»
insbesondere seine Einführung in den Dienst am Karlsthor
genügte nicht. In anderen Dienstzweigen z. B. beim Mili-
tär und der Marine wäre Ähnliches nicht möglich. Was
dem Angeklagten zugemutet wurde, war für ihn zu viel.
Daß man ihn mit verbunden Augen auf den gefährlichen
Boden gestellt und belassen hat, ist unverzeihlich. Bezüg-
lich Hoffmanns stimmt Redner ganz dem Staatsanwalt
zu. Man hätte Hoffmann längst am Karlsthor zurückziehen
müssen. Am 7. Oktober war am Karlsthor der schwächste
Punkt der bad. Eoenbahnverwaliung. Ein junger, schlecht
ausgebildeter Mann, schlechte Apparate, ein altes Zugver-
zeichnis u. s. w. Die Verwaltung hätte an dieser so sehr
verkehrsreichen Strecke längst zeitgemäße Einrichtungen treffen
müssen. Dazu die Verschiedenartigkeit der Dienstleistungen
für den einen jungen Beamten! Eine ganz ungeheure An-
forderung ! Weipert hat dann noch gesucht, seinen Fehler zu
korrigieren, und das wäre auch gelungen, wenn nicht eine
Kette von unglücklichen Umständen das verhindert hätten.
Daß Zahn auf die Frage Weiperts nicht reagierte und
Zug 126 a abgehen ließ, das ist die wahre Ursache des
Zusammenstoßes gewesen. Verantwortlich und die wahren
Schuldigen sind ganz Andere als Weipert. Das System ist schuld,
es läßt sich nicht deutlicher charakterisieren als mit den
Worten von Thielen's, daß der Betriebscosffizient
abgenommen habe; das ist das System, die Ausgaben
im Verhältnis zu den Einnahmen möglichst hcrabzumindern.
Für 1100 Mk. bekommt man nicht die richtigen Leute
für solchen verantwortlichen Dienst. Wie sehr maßgebend
der Kostenpunkt für die Verwaltung ist, geht daraus her-
vor, daß sie die Gefährlichkeit des Fahrens von Zügen
mit verschiedener Geschwindigkeit wohl erkannt, aber
des Kostenpunktes wegen nicht geändert hat. Das sagt die
Verwaltung direkt in ihrer Erklärung vom Jahre 1899.
Weipert ist das Opfer eines unheilvollen Systems. Wenn
Metzger, Hartmann u. andere sich nicht strafbar gemacht
haben, dann ist nicht zu begreifen, wie man Weipert als
den alleinigen Schuldigen zur Rechenschaft ziehen will.
Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen.
RechtsanwaltDr.S cho ttler bezeichnet den Angeklagten
als ein halbes Kind, schon seinem Aussehen nach, und hebt
die Momente hervor, die Weipert nicht vorherschen konnte;
so z. B- die Ueberfüllung, die an der großen Zahl der
Verunglückten Schuld sei. Weist darauf hin, wie viele Frei-
sprechungen und milde Verurteilungen in den letzten Jahren
in Eisenbahnunglücksfällen erfolgt sind. Bittet, diese mllde
Tendenz auch Weipert zuzu wenden, und falls auf Schuldig
erkannt werden sollte, eine milde Strafe aussprechcn, denn
das Verschulden Weiperts sei ein minima les. Gesühnt hat
Weipert durch eine Untersuchungshaft von 5 Monaten.
Seine Carrisre ist ruiniert, seine Kaution hat er cingebüßt.
Staatsanwalt Sebold erwidert mit wenigen WorteN-
daß der Angeklagte die schweren Folgen voraussehen
konnte, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Weiperts
Verhalten war hochgradig schuldhaft.
Hierauf zieht sich der Gerichtshof zurück.
Um 12 Uhr nachts wird das Urteil ver'
kündet. Dasselbe verhängt über Weipert
eine Gefängnisstrafe von acht Monate«,
wovon vier Monate Unter'
suchungshaft abgehen. Die Br"
fähigung, ein Eisenbahnamt zu bekleide«,
wurde dem Weipert nicht abgesproche«-
Ohne Kautionslei st ung wir- er
vorläufig auf freien Fufi gesetzt.
Die Begründung des Urteils hebt hervor, daß der
Gerichtshof nicht die Mängel im Eisenbahnsystem ab-
zuurteilen hätte, sondern die Frage, ob Weipert schuldig
sei. Auch sei es nicht Sache des Gerichtshofs, zu ent'
scheiden, wer etwa noch zu verfolgen sei. Das sei Sa^
des Staatsanwalts. Das Gericht habe nur zu entscheidet
ob der vom Staatsanwalt Auserwählte schuldig sei. AnK
sei für den Gerichtshof die von der Verteidigung an'
gerufene Statistik nicht maßgebend, wonach naturnotwendig
eine bestimmte Anzahl von Eisenbahnunfällen regelmäßig
passiere. Weipert habe eine wesentliche Bestimmung sein^
Dienstvorschrift unbeachtet gelassen; er habe sie in
verantwortlicher Weise außer Acht gelassen. Er habe eE
halbe Stunde lang den ganzen Fahrdienst fast vollständig
vernachlässigt. Unzurechnungsfähig sei Weipert nicht, aM
nicht nach seiner Ausbildung unbefähigt zu dem Die»m
der ihm übertragen war; er war imstande, den FahrdieNi

neben den anderen Diensten zu besorgen. Er war

auch

nicht ermüdet. Er hat der Schalteraufnahme zu
Berücksichtigung gewidmet und dadurch den Fahrdienst
nachlässigt. Zugegeben muß der Verteidigung werden, dad
man nicht mit dem Staatsanwalt sagen kann, das
halten des Angeklagten sei Liederlichkeit gewesen.
Besuch Andre's war ein Unfug, aber er hat doch niK
eigentlich das Unglück veranlaßt. Der Gerichtshof niur^
an, der Hauptgrund sei der, daß Weipert in Unbesonne>
heit den Schalterdienst dem Fahrdienst vorgezogen h""'
Seine Pflichtverletzung hat die Gefährdung eines
bahntransports in sich geschlossen und ist auch
wirkende Ursache des Unglücks geworden. Der Augeklag
konnte voraussehen, daß sein Verhalten Unheil anrich^
konnte. Seine Verurteilung gründet sich auch 8 222
 
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