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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927

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Heft 4
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Adam, Leonhard: Ein chinesisches Relief
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0144

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denn das Gegenstück, welches Siren aut PI. 565B zeigt, läßt entsprechende
Gestalten in entgegengesetzter Richtung schreiten. Für die Annahme Sirens,
daß die vorderste Figur vielleicht einen Lokapala darstelle, finde ich keinen An-
haltspunkt. Die Gesichter sämtlicher Figuren sind völlig verwittert oder vor
langer Zeit verstümmelt, die meisten Hände sind ebenfalls nicht mehr vorhanden,
Attribute fehlen daher oder sind wenigstens nicht zu erkennen. Eine Bestim-
mung der Bodhisattvas erscheint somit unmöglich. Dennoch ist das Relief auch
ikonographisch nicht uninteressant, indem es die Anordnung der sich dem Er-
habenen nahenden und ihre Verehrung bezeugenden Bodhisattvas zeigt — eine
Anordnung, die der Art nach deutlich sichtbar auf bekannte und stereotype
Gandhäravorbilder zurückgeht (archäologisch-entwickelungsgeschichtlicher Ge-
sichtspunkt), der Ausführung nach jedoch, in der ungebundenen und doch
wieder geistig verbundenen Reihenfolge der Gestalten, im Ausdruck des gleich-
sam fühlbaren, majestätisch-langsamen Schrittes urchinesisches Kunstwerk ge
worden ist (stilkritisch-kunstgeschichtlicher Gesichtspunkt). Man erkennt, welche
grundsätzliche methodologisch-kritische Einstellung ich mit diesen, ad hoc ge-
schriebenen Worten knapp ausdrückenwill. Für mich gibt es keine Kontroverse —
hie Gandhära, hie ureigenes Ostasien. Ich kenne nur verschiedene Betrachtungs-
weisen und, wo jener Streit noch lodert, eine für den ersprießlichen Arbeits-
fortgang höchst verderbliche Begriffsverwechselung. Der Kunstforscher allein
als solcher darf niemals die Vermessenheit haben, mit Gefühlsargumenten fest-
stehende archäologische Ergebnisse antasten zu wollen. Aber auch nach der an-
deren Seite, die mir von Hause aus näher steht, ließe sich manch entsprechen-
des Wort sagen.
Siren schreibt das Relief der Epoche der sogenannten »fünf Dynastien« zu, unter
welchem Namen man bekanntlich die späteren Liang, die späteren T’ang, die
späteren Tsin, die späteren Han und die späteren Chou zusammenläßt (907—
960 n. Chr.). Mit Recht sagt er, daß die Gestalten dieses Reliefs eher an die
T’ang-Zeit gemahnen (wobei natürlich an die ältere Dynastie T’ang [618—907]
zu denken ist) als an die Sungzeit. Wenn auch die Gesichter und Hände ver-
stümmelt sind, so ist doch das Wesentliche der ganzen Figuren erhalten, ja ich
möchte sagen, daß gerade vermöge der Verwischung der Einzelheiten der Ge-
samteindruck der Gestalten als solcher und der Rhythmus der Gruppe erst so
recht, ohne die durch Details stets bedingte Ablenkung, empfunden werden
kann. Der Eindruck des Originals ist der einer wundervollen Erhabenheit und
Monumentalität. Man denkt an ein wahres Wort, das Alfred Salmony (von
dessen prinzipieller Einstellung ich vielfach abweiche), in seiner »Chinesischen
Plastik« schreibt: »In keiner Epoche steht China dem an Griechenland geschul-
ten Schönheitsempfinden der weißen Rasse näher« nämlich als in der (T’ang-
zeit). Zweifellos gehört das Stück zu den bedeutendsten Kunstwerken des alten
China, die jemals nach Deutschland gelangt sind.

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