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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927

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Heft 6
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Giedion, Sigfried: Zur Situation der französischen Architektur, 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0196

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ZUR SITUATION DER FRANZÖSISCHEN
VON SIGFRIED GIEDION
EISENBETON
Es ist nutzlos, über neue Architektur in
Frankreich zu reden, ohne ihre Grund-
lage zu berühren: Eisenbeton. Er wird
nicht als kompaktes Material aus der
Natur gebrochen. Sein Sinn ist: künst-
liche Zusammensetzung. Seine Her-
kunft: das Laboratorium. Aus dünnen
Eisenstäben, Zement, Sand, Abfallsteinen,
aus einem »Verbundkörper« können un-
geheuere Gebäudekomplexe sich plötz-
lich zu einem einzigen Stein auskristal-
lisieren, Monolithe werden, die dem
Angriff des Feuers und einem Höchst-
maß an Belastung widerstehen können
wie kein natürliches Material zuvor.
Dies wird erreicht, indem das Labora-
torium die verschiedenen Eigenschaften
der Materialien erkennend ausnützt und
durch ihre geeignete Verbindung sie zu
einem vielfachen der eigenen Leistungs-
fähigkeit steigert. Man weiß: ein belaste-
ter Balken — sei es an einem Brücken-
oder einem Deckenträger — ist in seinem
oberen Teil hauptsächlich auf Druck be-
ansprucht, in seinem unteren Teil hauptsächlich auf Zug. Also bettet man das
Eisen, das das Vermögen hat, vorzüglich zugwiderstandsfähig zu sein, mehr an
die Unterseite, während dem Beton mit seinem großen Druckwiderstand als
kompakte Masse im oberen Teil die eigentliche Herrschaft zukommt.
Monnier wußte das— 1867 — nicht. Bei seinen bewehrten Betonkübeln hatte
das Eisen die Funktion, Form zu geben und der Beton die Funktion, Füllung
zu sein. Schrittweise dachte Monnier sein System weiter aus — beharrlicher
als seine Vor- und Mitgänger Lambot 1854, Coignet 1861, Hyatt 1877 -
nahm nacheinander Patente auf Röhren, ebene Platten, Brücken, Treppen (1875).
Trotz instinktmäßig richtiger Anordnung, ist die Funktion des Eisens und des
Betons bei ihm auch am Ende noch nicht erkannt. Dies fiel 1880 deutschen
Ingenieuren zu. —Aber der entscheidende Schritt, der überhaupt erst gestattete,
aus einem Hilfsmittel, einem Konstruktionsdetail ein neues architektonisches
Gestaltungsmittel werden zu lassen, gelang Fr. Hennebique.
Auch dieses Resultat ging, wie fast alle bleibende Erkenntnis unserer Zeit, nicht
aus phantastischen Visionen hervor — diese sind erst Folge — sondern aus
mikroskopischem Nahsehen. Oder, wenn wir dies in der bescheideneren Sprache
unserer Zeit ausdrücken wollen: aus Patenten.
1 Die Aufnahmen stammen vom Verfasser. Abb. 7, 8, 10, 19, 22, 23 von Le Corbusier,
Abb. 20 nach »Architecture vivante«, Herbst 1926. Klischee 13 von E. Wasmuth.

A R C H I T E K T U R II


Abb. 1. Aug. Perret auf der Dachterrasse
seines Hauses Rue Franklin 25. 7. Stock.
Terrasse und Geländer (aus Automobilröhren)
erbaut 1905. Aufgenommen Januar 19271
 
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