Edvard Munch Frühling. 1889
Museum, Oslo
EDVARD MUNCH UND DER GEIST SEINER ZEIT
ANLÄSSLICH DER GROSSEN MUNCH-AUSSTELLUNG DER NATIONALGALERIE ZU BERLIN
VON ALFRED KUHN
Gleich hinter dem Tore der neueren Malerei liegt ein Kreuzweg. An ihm
sieht rechts der alte Cezanne mit grauem Knebelbart. In der Hand hält er
eine Rolle, darauf die Worte geschrieben sind: »Alles in der Natur modelliert
sich gemäß der Kugel, dem Kegel und dem Zylinder. Man muß auf Grund
dieser einfachen Figuren malen lernen, nachher wird man alles machen können,
was man will.« Links stehen van Gogh und Munch, mit flatterndem blonden
Haar und blauen Augen. Van Gogh erzählt von dem Manne, den er malen
will, und von seiner Liebe zu ihm, die er dabei ausdrücken möchte: »Ich über-
treibe das Blond der Haare, ich nehme Orange, Chrom, mattes Zitronengelb.
Hinter den Kopf statt der banalen Zimmer wand male ich die Unendlichkeit.« —
Munch hört zu mit abgewandtem Gesicht. Vielleicht auch vernimmt er kein
Wort. Sein Blick ist ins Wesenlose gerichtet. Er spricht nicht. Aber vor seinem
starren Auge sieht er sich selbst in fröstelnder Einsamkeit unter dem Grau
eines nordischen Himmels. Wolkenfetzen fegen vor dem kalten Rot der
winterlichen Sonne vorüber, zu Trollen und Hexengestalten sich ballend, den
neblichten Schlünden der finsteren Erde entstiegen, jagend in ein Ungewisses
hinaus.
Keiner kann an diesem Kreuzweg vorbei, ohne sich zu entscheiden. Cezanne pre-
digt das Maß, die Zügelung. Glorreich läßt er vor den Jünglingen als Lohn das
»Museumsbild« erscheinen, das zehnfach geläuterte Kunstwerk. Die Romanen
folgen begeistert ihm nach, die Franzosen, die Italiener, die Spanier. Aber die
10 Der Cicerone, Jahrg. XIX, Heft 5
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