DER HOLLÄNDER GEERTGEN VAN HAARLEM
VON MAX J. FRIEDLÄNDER
Über die Herkunft Geertgens, über seine Ausbildung ist Klarheit schwerlich zu
erlangen. Freilich versichert van Mander, van Ouwater sei sein Lehrer gewesen.
Die vergleichende Stilkritik vermag jedoch Bestätigung dieser Aussage nicht zu
erbringen. Nicht ganz provinziell abgeschlossen im engen und dunkeln Bezirke
der Haarlemer Produktion vollzog sich Geertgens Ausbildung. Berührung mit
den in Gent und Brüssel herrschenden Meistern ist beobachtet worden. Man
hat aus diesen Beziehungen Folgerungen gezogen zu ersehnter Bereicherung
der Biographie und beliebter pragmatischer Abrundung. Geertgen wäre in jungen
Jahren, etwa als wandernder Geselle, im Süden gewesen. Setzen wir das Ge-
burtsjahr mit 1460 ein, so fällt die Lehrzeit in die Jahre 1475 bis 1480, also
in die Blütezeit Hugos van der Goes. Um 1480 war Geertgen jung genug und
alt genug, wenn anders er damals in Gent war, tiefe Eindrücke von der über-
legenen Gestaltungskraft Hugos zu empfangen. Da aber nur einzelne Motive
aus dem »Werk« des Genters in seiner Phantasie weiterlebten, da ihm, soweit
wir sehen, nur eine Komposition Hugos, nämlich die der Monforte-Anbetung,
bekannt war, so könnte er wohl eine Zeichnung oder mehrere Zeichnungen be-
sessen haben, die ihm jene Bildmotive übermittelten, ohne daß er jemals die
Heimat verlassen hätte.
Rogiers und Hugos Vorbilder wirkten gleichsam an der Stelle des schwächsten
Widerstandes, nämlich dort, wo des Plolländers Kraft versagte. Geertgen wurde
ergriffen von dramatischen Bewegungsmotiven, die seiner Erfindungsgabe fremd
waren und in der heimischen Überlieferung nicht vorbereitet lagen. Wir er-
innern uns daran, daß Rembrandt in der Dramatik seiner Jugend sich an Rubens
anzulehnen scheint. Die — sicherlich etwas schiefe — Parallele mag immer-
hin ein wenig das Verhältnis Geertgens zu van der Goes bezeichnen. Wie ernst
es der Haarlemer mit der Erzählung nahm, wie entschieden mit drastischen
Gegensätzen er biblische und legendenhafte Geschehnisse und Situationen ver-
anschaulichte: er baut Gruppen auf, die stillebenhaft wirken. Ihm mangelt
durchfließende, verbindende und einigende Bewegung. Der Zusammenhang
wird mehr durch die Realität der Örtlichkeit als durch geistige Beziehungen
zwischen den Figuren gesichert. Wenigstens in seinen reichen Kompositionen
wirken die Figuren ein wenig wie aufgestellt auf dem Schachbrette. Bezeich-
nend für seine Gestaltungsweise ist es, daß die kleinen Tafeln mit wenigen Ge-
stalten oder mit einer Gestalt in besonders hohem Grade befriedigen, wie der
Täufer in Berlin oder die heilige Nacht in London. Die Figuren mit dem Raum
zu vereinigen, gelingt dem Meister leichter, als sie miteinander zu verbinden,
und am glücklichsten gestaltet er, wenn er das Bild als ein Ganzes beobachtend
aufzunehmen vermag. Sein Bedürfnis, den einzelnen Organismus nach Form,
Farbe, Gewicht und seinem Verhältnis zum Raume zur Geltung zu bringen,
hindert ihn daran, figurenreichen Gruppen zügige Verschlungenheit zu ver-
leihen. Wohl trachtet er nach Bewegtheit, doch scheinen die Körper nach hef-
tiger Aktion in exzentrischen Lagen zu verharren. Die Illusion des Sich-Be-
wegens wird nicht hervorgerufen. Geertgens Geschöpfe stehen zumeist auf
beiden Beinen, sie stehen sicher, wie sie auch unzweifelhaft sitzen. Ihr Verhält-
625
41 Der Cicerone, XIX. Jahrg., Heft 20
VON MAX J. FRIEDLÄNDER
Über die Herkunft Geertgens, über seine Ausbildung ist Klarheit schwerlich zu
erlangen. Freilich versichert van Mander, van Ouwater sei sein Lehrer gewesen.
Die vergleichende Stilkritik vermag jedoch Bestätigung dieser Aussage nicht zu
erbringen. Nicht ganz provinziell abgeschlossen im engen und dunkeln Bezirke
der Haarlemer Produktion vollzog sich Geertgens Ausbildung. Berührung mit
den in Gent und Brüssel herrschenden Meistern ist beobachtet worden. Man
hat aus diesen Beziehungen Folgerungen gezogen zu ersehnter Bereicherung
der Biographie und beliebter pragmatischer Abrundung. Geertgen wäre in jungen
Jahren, etwa als wandernder Geselle, im Süden gewesen. Setzen wir das Ge-
burtsjahr mit 1460 ein, so fällt die Lehrzeit in die Jahre 1475 bis 1480, also
in die Blütezeit Hugos van der Goes. Um 1480 war Geertgen jung genug und
alt genug, wenn anders er damals in Gent war, tiefe Eindrücke von der über-
legenen Gestaltungskraft Hugos zu empfangen. Da aber nur einzelne Motive
aus dem »Werk« des Genters in seiner Phantasie weiterlebten, da ihm, soweit
wir sehen, nur eine Komposition Hugos, nämlich die der Monforte-Anbetung,
bekannt war, so könnte er wohl eine Zeichnung oder mehrere Zeichnungen be-
sessen haben, die ihm jene Bildmotive übermittelten, ohne daß er jemals die
Heimat verlassen hätte.
Rogiers und Hugos Vorbilder wirkten gleichsam an der Stelle des schwächsten
Widerstandes, nämlich dort, wo des Plolländers Kraft versagte. Geertgen wurde
ergriffen von dramatischen Bewegungsmotiven, die seiner Erfindungsgabe fremd
waren und in der heimischen Überlieferung nicht vorbereitet lagen. Wir er-
innern uns daran, daß Rembrandt in der Dramatik seiner Jugend sich an Rubens
anzulehnen scheint. Die — sicherlich etwas schiefe — Parallele mag immer-
hin ein wenig das Verhältnis Geertgens zu van der Goes bezeichnen. Wie ernst
es der Haarlemer mit der Erzählung nahm, wie entschieden mit drastischen
Gegensätzen er biblische und legendenhafte Geschehnisse und Situationen ver-
anschaulichte: er baut Gruppen auf, die stillebenhaft wirken. Ihm mangelt
durchfließende, verbindende und einigende Bewegung. Der Zusammenhang
wird mehr durch die Realität der Örtlichkeit als durch geistige Beziehungen
zwischen den Figuren gesichert. Wenigstens in seinen reichen Kompositionen
wirken die Figuren ein wenig wie aufgestellt auf dem Schachbrette. Bezeich-
nend für seine Gestaltungsweise ist es, daß die kleinen Tafeln mit wenigen Ge-
stalten oder mit einer Gestalt in besonders hohem Grade befriedigen, wie der
Täufer in Berlin oder die heilige Nacht in London. Die Figuren mit dem Raum
zu vereinigen, gelingt dem Meister leichter, als sie miteinander zu verbinden,
und am glücklichsten gestaltet er, wenn er das Bild als ein Ganzes beobachtend
aufzunehmen vermag. Sein Bedürfnis, den einzelnen Organismus nach Form,
Farbe, Gewicht und seinem Verhältnis zum Raume zur Geltung zu bringen,
hindert ihn daran, figurenreichen Gruppen zügige Verschlungenheit zu ver-
leihen. Wohl trachtet er nach Bewegtheit, doch scheinen die Körper nach hef-
tiger Aktion in exzentrischen Lagen zu verharren. Die Illusion des Sich-Be-
wegens wird nicht hervorgerufen. Geertgens Geschöpfe stehen zumeist auf
beiden Beinen, sie stehen sicher, wie sie auch unzweifelhaft sitzen. Ihr Verhält-
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41 Der Cicerone, XIX. Jahrg., Heft 20