Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927

DOI Heft:
Heft 20
DOI Artikel:
Friedländer, Max J.: Der Holländer Geertgen van Haarlem
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0648

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
nis zur Bodenplatte und zur Sitzfläche ist überzeugend ausgedrückt. Dies will
mehr besagen, als es scheint. Ich habe, als ich Rogiers Kunst zu schildern versuchte1,
gerade das Gegenteil davon als ein Merkmal von tiefer Bedeutung hervorgehoben.
Der bedenkliche Punkt, bemerkte ich bei Beurteilung Rogiers, liegt dort, wo
die Figur einerseits, das Terrain oder das Bauwerk andererseits, zusammenstoßen.
Dort stimmt die Rechnung nicht. In der Ausbildung des dreidimensionalen Ge-
häuses, des landschaftlichen wie die baulichen, ist Geertgen weit konsequenter
und erfolgreicher als Rogier, als Memling, selbst als van der Goes.
Die naturkundliche Aufgeklärtheit, die mit der Heimat vertraute Vernünftig-
keit des Holländers verlangte Klarheit der räumlichen Umstände und opferte
dieser ersten Forderung vieles. Geertgen erbaut den Schauplatz, begrenzt ihn
nach den Seiten und der Tiefe zu, mit Mauern, Laubwänden oder Felsen und
setzt die Figuren ein, im natürlichen Größenverhältnis, mit richtiger perspek-
tivischer Konstruktion, sogar in leidlich konsequenter Lichtführung. Sein land-
schaftlicher Raum teilt einige Eigenschaften mit dem Innenraume, zumal da
er meßbar abgeschlossen erscheint, und das Licht darin eher gesammelt als
diffus, eher warm als kühl, wie aus naher Quelle, zuweilen selbst wie aus künst-
licher Quelle strahlt. Das Licht erzeugt kräftige Gegensätze im Dienste der
Modellierung, es spielt nicht, sondern entscheidet sich zu ja und nein.
Geertgens Phantasie beginnt die Erzählung mit dem Wo und Wann. Erbemüht
sich um örtliches und zeitliches Kolorit und kontrastiert die Legenden und die
Wunder gegen die nüchterne und verständige Gegenwart, namentlich durch
das Kostüm, freilich nicht als ein kenntnisreicher Historiker, vielmehr — für
unsere Augen — wie ein Märchenerzähler. Hier, wie auch oft in anderen Fällen,
irrt sich der Beobachter, wenn er »Zeittracht«, nämlich die Tracht aus des
Meisters Zeit, zu erblicken glaubt, welche Tracht wir im circulus vitiosus eben
aus den Gemälden wähnen kennenzulernen. Natürlich kam der Meister von
den Grundformen der zeitgenössischen Bekleidung nicht los und vermochte das
Fremde nicht anders als durch Abwandlung, Aufputzung und Übertreibung des
Vertrauten zu gestalten. Das Kostüm ist idealistisch und phantastisch in höherem
Grad, als es uns zunächst vorkommt. Der Absicht und Wirkung auf seine Zeit-
genossen nach schuf Geertgen Historienbilder. Was vom Kostüme gilt, trifft
auch auf die Baulichkeiten zu und auf den Menschentypus. Die romanischen
Burgen kamen dem Meister uralt, heroisch und ehrwürdig vor, passend zu den
vorweltlichen Abenteuern.
Die dramatische Spannung entstammt dem Gegensätze der frommen, sittsamen
und ehrbaren Christen einerseits und der heillosen Juden oder Heiden anderer-
seits. Die Bösen erscheinen fremdrassig, mit üppigem Haarwuchs, grausam,
grotesk, komisch in ihrem Hochmut oder in ihrer Beschränktheit und werden
mit demokratischer Abneigung gegen aufgeblasene Tyrannei, gegen Hofzere-
moniell und gegen Säbelgerassel betrachtet. Christus und die Heiligen litten
in einer glücklich überwundenen Zeit, als dreistes, verstocktes und abergläubi-
sches Volk mit fremden Sitten sich spreizte. Das exotisch Bunte wird als unter-
haltend der erbaulichen Erzählung beigemischt. Die Frommen und Heiligen
sind schön im Sinne eines persönlichen und holländischen Ideals. Glattgewölbte
Köpfe mit hoher Stirn, dunkeln, flachliegenden Augen, hohen, rundgeschwun-
1 M.Bd. II S. 50.
624
 
Annotationen