ZWEI UNBEKANNTE SIENESISCHE PRIMITIVE
IN BERLIN VON JÖRG TRÜRNER
Ein Gebiet, auf dem im allgemeinen das sammelnde Publikum vor den Kunst-
historikern die Führung übernommen hat, ist die gotische Malerei in Italien.
Auf Deutschland treffen diese Verhältnisse zwar nicht zu, aber nicht etwa wegen
des Eifers seiner Kunstkritiker, sondern wegen der mangelnden Liebe des Pu-
blikums. Ein ganz besonderes Stiefkind bildet dabei die Malerei der zweiten
Trecentohälfte in Siena. Deshalb bin ich froh, hier zwei Bilder aus diesem Ab-
schnitt veröffentlichen zu dürfen, die sich beide in Berlin befinden, das eine in
öffentlichem und das andere in privatem Besitz.
Das Bild der Sammlung Goldschmidt ist oben und unten um etwa ein Viertel
seiner ursprünglichen Höhe gekürzt, so daß man von dem abschließenden Spitz-
bogen nur noch den Ansatz an den Seiten sieht. Im übrigen sind Goldgrund
und Farben sehr gut erhalten. Die Tafel mit der thronenden Madonna, dem
Kinde, zwei Engeln und den Heiligen Katharina und Bartholomäus bildete
wahrscheinlich die Mitte eines Triptychons.
Auffallend ist die herbe Bewegung, mit der die Mutter von dem auf ihrem
Knie hieratisch starr ste-
henden Kinde zur Seite
rückt, und das intensi ve Zu-
schauen der beiden Engel,
deren Körper die Bewe-
gung der Muttergottes mil-
machen. Beides ist den Lo-
renzetti und ihren Nach-
folgern eigentümlich, zu
denen auch Niccolo di Buo-
naccorso gehört, dem wir
dieses Bild bei näherer
Betrachtung zuschreiben
müssen.
Eine ähnliche Komposition
hat der Meister mehrmals
verwendet. So in einem
Bilde des Bostoner Mu-
seums. Man sieht auch
dort den Thron mit Arm-
lehnen, Wangen und spitz -
giebligem Rücken, der von
einem Brokat bedeckt, auf
einer breiten Stufe steht,
dahinter die Engel und da-
vor dieHeiligen. Ganz ähn-
lich ist der Verlauf des
dunkelblauen Marienman- Tafel des Nicc0i0 di ßuonaccorso »5* 19 cm
tels auf beiden Bildern. Sammlung Goldschmidt, Berlin
19 Her Cicerone, Jahrg. XIX, Heft 9