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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927

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Heft 4
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Zum neuen Bauen
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0154

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Ernesto de Fiori
Bildnis des Kaufmanns Emil Flechtheim
Bronze Ausgestellt im Leipziger Kunstverein

eben seine erste Siedlung von einem halben
hundert Häuser in Pessac bei Bordeaux hinter
sich. Man kann seine Häuser nur verstehen,
wenn man die ganze französische Entwicklung
dahintersieht. Sie bestehen in ihrer tragenden
Substanz aus einem halben Dutzend Betonsäu-
len, und es wird besonders wichtig sein zu er-
fahren, wie die leichte Bauweise für un-
ser unfreundlicheres Klima sich bewährt.
Mart S tarn (Rotterdam) ist vielleicht der in-
ternationalste der Architekten. Fäden führen
von ihm nach Rußland, Fäden führen ihn nach
Amerika. Von dem üblichen Begriff der Mo-
numentalarchitektur sind seine Bauten am wei-
testen entfernt. Er nähert sich einer anony-
men Ingenieurarchitektur. Ihn reizen
Probleme, die mit Bewegung verbunden sind:
Bahnhöfe, Hochhäuser von Schwebebahnen
durchdrungen. Daher sein eigentliches Gebiet:
Großbauten.
Die deutschen oder österreichischen Architek-
ten brauchen an dieser Stelle keine Weglei-
tung. Dankbar ist man, daß man einige Ber-

liner Modegrößen vermissen darf und dafür
neben Taut, Gropius usw. Leute findet, die
viel zu lange über Projekten sitzen mußten
wie Mies van der Rohe, Hilberheiiner, Scha-
roun.
Neben der Siedlung dieser Architekten, neben
der Darbietung des ganzen Wohnbetriebes
könnte aber vorab Eines wegleitend werden:
die Ausstellungen neuer Materialien.
Nicht nur die Baustoffe, die Konstruktionen
beim Versuchsgelände nahe der Siedlung, son-
dern auch jene anonymeren Bestandteile, wie
Gummi, Fußbodenbelag, neue Wandbeklei-
dungen. Die Industrie liefert heute — viel-
fach ohne es selbst zu wissen — Materialien
für den künftigen Wohntyp.
Man könnte fast sagen: so viel Materialien, so
viel ungenutzte, unentdeckte Möglichkeiten.
Kein Sinn ist beim Publikum und dem übli-
chen Architekten weniger geschult, als der Sinn
für die Struktur des Materials, für die
Möglichkeiten — auch künstlerischer Art, die
in dem Zusammenklang verschiedener Ober-
flächenwirkungen— etwa Kalkwand und Öl-
fläche liegen — Wirkungen, die z. B. Picasso
oder Archipenko um 1912 bereits in ihren ab-
strakten Kompositionen verwendet hatten.
Aber nicht bloß um den Zusammenklang ver-
schiedener Materialien handelt es sich, son-
dern um die Materialien selbst. Durch eine
entsprechend angeordnete Aufstellung könnte
— es ließe sich denken, daß ein abstrakter Ma-
ler hier das Kommando übernähme — viel-
leicht einmal dem Publikum gezeigt werden,
daß die Materialien schon durch die Wirkung
ihrer Struktur eine gewisse Magie auszustrah-
len vermögen, es gibt — um nur Willkürliches
anzudeuten — Glanzeternit, der in seiner
leuchtenden Festigkeit für unsere Zwecke die
Wirkung des zufällig geaderten Marmors über-
trifft, es gibt strahlend farbige hochglanzige
Wachstücher, deren ästhetische oder praktische
Anwendungsmöglichkeiten, noch kaum an-
getönt worden sind, so wenig wie des Alumi-
niums oder der Spritzölanstriche, die Kälte
und Wärme gleich unverändert überstehen.
Es gibt Möglichkeiten, wo man hinblickt. Und
wenn es heute eines Genies überhaupt be-
dürfte, so müßte das ein Genie sein, das die
verborgen aufgestapelten Materialien visions-
mäßig ihrer erlösenden Verwendungsmöglich-
keit zuführte.
Wel ches Gebiet man auch antönen mag: diese
Ausstellung könnte durch ihre ganze Pro-
blemstellung tatsächlich den Weg zu unserer
baulichen Verwirklichung freimachen.
Giedion
 
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