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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927

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Heft 5
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Kuhn, Alfred: Edvard Munch und der Geist seiner Zeit: anlässlich der grossen Munch-Ausstellung der Nationalgalerie zu Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0163

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Edvard Munch Mutter und Tochter. 1915
Oslo, Museum

Es sind jene Jahre der Krämpfe, da das 20. Jahrhundert in schmerzvollen
Wehen geboren wurde, jene Jahre, die man abschätzig in seltsamer Verken-
nung mit fin de siedebezeichnete, als Munch in Berlin die Geister aufschreckte.
Eben begannen die Impressionisten die breiteren Massen sich zu erobern, von
Frankreich herüber, das einen Siegeszug des Gedankens von ungewöhnlicher
Großartigkeit zurückgelegt hatte. »Bejahung der Diesseitigkeit« stand auf der
dreifarbigen Fahne. Was 1789 unter blutigem Schafott gesät worden, stand
jetzt in Frucht und Saft. Wie die droits de l’homme politisch den gesamten
Kontinent, ja selbst die Staaten jenseits der Meere eroberten, so eroberte ihr
Symbol, die Kunst, die Lande in steigender Art. Es ist jene des heiteren, sich
mäßigenden Bürgers, der die Erde friedlich und vernunftgemäß mit dem Nach-
bar teilt, um ruhig sich ihres Genusses zu freuen. Eben, sage ich, hatte man
in Deutschland dieses Credo in vollem Umfang aufzunehmen begonnen, da er-
schien ein Mann und trat es höhnend in den Staub. Grimmig war sein Lachen,
als er wie ein Moritatensänger der ländlichen Jahrmärkte seinen Zyklus des
Lebens in Berlin in öffentlicher Ausstellung entrollte: »Liebe« war er genannt:
Sechs Bilder: Pubertät. Ein junges Mädchen zwischen Tag und Dunkel vor
dem Meere, das mit dem Himmel zusammenströmt unter einem glühenden
Monde. Alles scheint im Wirbel des kochenden Blutes zu kreisen. — Der Kuß.
Zwei ineinanderfließende Leiber. Der Himmel ist fort und die Welt ist weit.
Alles ist nur ein Strom, der zwei Menschen trägt, die in lächzender Brunst in-

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