Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927
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Heft 5
DOI article:Kuhn, Alfred: Edvard Munch und der Geist seiner Zeit: anlässlich der grossen Munch-Ausstellung der Nationalgalerie zu Berlin
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Edvard Munch. Studie zu der Gespensteraufführung in den Berliner Kammerspielen. 1906
Seilschaft, gesehen durch das scharfe Glas des Forschers. Seine Kunstweise ent-
spricht durchaus der eines impressionistischen Malers. Es wird nichts gesagt
und getan, was nicht als reale Gegebenheit möglich wäre. Die Person des
Künstlers schaltet sich aus, verschwindet hinter dem Objekt, das gleichsam als
Maschine einmal angetrieben, seinen Lauf vollendet, aus dem ihm eingegebe-
nen Gesetz heraus. Westliche Ästhetik (Flaubert) regiert. Dem gegenüber ist
für Strindberg einzig der Mensch interessant. Nicht nur, daß die Gesellschaft
von ihm nicht als wesentlich empfunden wird, im Gegenteil: alle seine Helden
sind asozial. Sie leben neben oder gegen die Gesellschaft. Ihr Streben ist allein
darauf gerichtet, zu sich selbst zu gelangen, zum Urgrund ihrer eigenen Seele
vorzudringen. Sie gehen unendliche Leidens- und Läuterungswege, die sie
vom harmlosen Leben zufälliger Geschehnisse wegführen in die Gegenden der
großen Einsamkeit, wo nur der Schlag des erschauernden Herzens hörbar ist
unter dem riesenhaften Himmel des Ewigen. Ihre Gedanken kreisen um die
uralten Fragen des Seins: um Leben und Tod, Liebe und Haß, um die Begier
nach dem Weib, den Kampf der Geschlechter, um Sündenfall und Erlösung.
Jedes zufällige Erlebnis wird zum Symbol, zum Meilenstein auf der Straße
des Absoluten. Konnte Ibsen im Anschluß an die großen Franzosen nicht weit
genug den eigenen Anteil an der Handlung tilgen, so kann Strindberg nicht
innig genug das Ich betonen. Seine Hauptromane sind die eigene Lebens-
beichte; in fast allen seinen Dramen nimmt er selbst sichtbar teil.
Strindbergs Auftreten in Deutschland liegt etwas später als jenes Munchs.
Aber auch er mußte dann noch lange warten, bis er den Einfluß Ibsens über-
wunden hatte. Eigentlich bis zu den Jahren des Krieges. Er fand da genau
dieselbe Situation, die einem Munch ein größeres Publikum erschloß.
Als der Zyklus »Liebe« im Jahre 1892 im Architektenhaus in Berlin aus-
gestellt wurde, wirkte er wie eine Fanfare im Geplätscher eines Scherzo. Wo
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