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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927

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Heft 5
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Kuhn, Alfred: Edvard Munch und der Geist seiner Zeit: anlässlich der grossen Munch-Ausstellung der Nationalgalerie zu Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0166

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Edvard Munch Mordallee. 1919

gab es denn im Norden jenes schimmernde Licht, das Monets Seinebilder um-
spielt, die rosige Animalität Renoirscher Frauen? Das Leben war nicht ein
französischer Vaudeville, eine amüsante Cocu-Komödie, in der am Ende doch
jeder auf seine Kosten kommt.
Es ist das Leid des Menschen, das man enthüllen wollte. Zum Weh geboren,
ist der Mensch von ihm umlauert. Auf dem Boden jedes Glases liegt es und
aus der Ermattung jeder Liebesumarmung wächst es empor. Wir selbst sind
die Welt. Die Sonne scheint durch uns, unsere Seele macht sie hell und trübe.
Der Frühling blüht für uns. Unser Kummer läßt ihn verblassen. Der Sommer
glüht durch uns. Der Glanz einer Liebe läßt ihn in Flammen aufgehen. Nicht
eine objektive Welt zu malen, ist die Aufgabe, sondern sich selbst, seine Seele,
in der die Welt sich spiegelt. »Seine (Munchs) Bilder«, schrieb in einer auf-
sehenerregenden schon oben zitierten Schrift von 1894 Stanislaw Przybysczewski,
»sind geradezu gemalte Präparate der Seele in dem Momente, in dem alle
Vernunftgründe schweigen, jegliche Vorstellungstätigkeit aufgehört hat, zu
wirken: Präparate der tierischen, vernunftfosen Seele, wie sie sich windet und
in wilden Stürmen aufwirbelt und in düsterem Dämmerungszustande hin-
siecht und in wilden Schmerzenskrämpfen schreit und vor Hunger heult.«
Die große historische Tat Munchs ist es, der Seele des nordischen Menschen
die eigene Sprache gestaltet zu haben. Er ist eine Art Luther. Wie es mit
diesem nach dem kollektiven mittelalterlichen Menschen, der sich in Padua
kaum von jenem zu Reims oder Bamberg unterschied, erst ein nordisches,
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