Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0202
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Heft 6
DOI article:Giedion, Sigfried: Zur Situation der französischen Architektur, 2
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Abb. 10. Pessac: Kleinster Haustyp mit tonnenförmigen Vorratskammern (Plan 61—64)
schreiben, so stellt sich sofort die zwiefache Frage: Wie steht er innerhalb der
französischen Bewegung und wodurch hat er das Wohnproblem über das über-
lieferte Maß hinaus weitergebracht, dann erst wird die Frage nach dem for-
malen Gefüge seiner Bauten zu erledigen sein.
Wie Corbusier innerhalb der französischen Bewegung steht, sollte in Umrissen
vielleicht schon aus Früherem klar sein: Er steht und fällt mit der Tradition
des Eisenbeton. Nur in Frankreich ist es für den Architekten möglich, sich
diesem Material bedingungslos anzuvertrauen. Die zersetzenden Wenn und
Aber, die in anderen Ländern, gerade von Köpfen der Avant-garde, diesem Ma-
terial, vielfach mit Grund, entgegengebracht werden und Unsicherheit in der
Produktion erzeugen, fallen in Frankreich fort. Man denke nur an Holland,
das im Wohnbau nicht vom Backstein loskommt, trotz gutem Willen. Die Stadt
Amsterdam hat Betondörfer nach verschiedensten Methoden erbauen lassen,
ohne zu eigentlicher Befriedigung zu gelangen. Robert van t’Hoffs Beton-
mauerhaus in Huis ter Heide, 1915 (Abb. 3), das übrigens kein eigentliches
»Skeletthaus« ist, bleibt als Konstruktionsvorgang fast ohne Nachfolge, trotzdem
es, formal, zu einem Ausgangspunkt der ganzen holländischen Bewegung wurde.
Über zwei Dinge verfügt Corbusier vornehmlich: über die Fähigkeit, Dinge
bis zu einer manchmal fast gefährlichen Lapidarität zu vereinfachen und über
eine unentwegte Konsequenz in der Entwicklung.
Seit seinem ersten Haus im Schweizer Jura, 1916, das äußerlich in herkömm-
lichen Formen gehalten ist (Abb. Kommende Baukunst1, S. 62), aber bereits
1 Es sei hier ausdrücklich auf die deutsche Übersetzung von Corbusiers bestem Buche
»Vers une Architecture« aufmerksam gemacht, die der Übersetzer Hans Hildebrandt
reicher illustriert als das Original und sorgfältiger gedruckt unter dem Titel »Kommende
Baukunst« herausgab. Deutsche Verlagsanstalt. Stuttgart 1926.
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