Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0328
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Heft 10
DOI Artikel:Bethe, Hellmuth: Ein unbekannter norddeutscher Schnitzaltar des 14. Jahrhunderts
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Abb. 4. Kopf Mariae (Detail von Abb. 2)
Eine Predella, die ja erst im 15. Jahrhundert Regel wird, scheint der Rossower
Altar nicht gehabt zu haben. Auch ein oberer Abschluß durch einen Kreuz-
blumenkamm oder dergl. hat ihm aller Wahrscheinlichkeit nach gefehlt.
Künstlerisch steht der Altar für die Gegend ganz ungewöhnlich hoch. Die
Skulpturen sind nicht, wie so häufig in Norddeutschland, von einem derben
Handwerker, sondern von einer plastisch stark empfindenden Persönlichkeit
geschaffen und auch die Flügelmalereien erheben sich weit über das Durch-
schnittsniveau.
Im Schrein zieht zunächst die Marienkrönung mit den prächtigen Doppel-
wimpergen im Hintergrund, den weihrauchfaßschwingenden Engeln und den
seitlich vor dem Thron sitzenden Löwen den Blick auf sich (Abb. 2). Die Fi-
guren von Christus und Maria, die durch ihre Größe — 80 cm Höhe und
45 cm Breite — vor allen andern ausgezeichnet sind, fesseln durch die Hoheit
und Ruhe ihrer Erscheinung. Die Proportionen sind ausgesprochen schön, die
Bewegungen feierlich-gemessen und die Falten der Gewänder von selten melo-
diösem Fluß. Am eindrucksvollsten jedoch sind die Köpfe: der Christi mit der
hohen Stirn, den gütig blickenden Augen und den ernst geschlossenen Lippen
(Abb. 5) und der Maria mit dem mädchenhaft unschuldigen Ausdruck, dem
reizenden Stupsnäschen, dem zu einem Lächeln verzogenen Munde und dem
wallenden Lockenhaar (Abb. 4). Man kann in der deutschen Plastik des
14. Jahrhunderts lange suchen, bis man einen Madonnenkopf von gleichem
Liebreiz wiederfindet.
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