Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0330
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Heft 10
DOI Artikel:Bethe, Hellmuth: Ein unbekannter norddeutscher Schnitzaltar des 14. Jahrhunderts
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Abb. 6. Der zwölfjährige Jesus im Tempel
Detail von der Außenseite des rechten Altarflügels
Rossow, Dorfkirche. Um 1400
Dem Stil nach sind die Skulpturen nicht in Norddeutschland zu Hause. Es steckt
unendlich viel westliche und südwestliche Kunst in ihnen. Zunächst denkt man
wohl an die Kölner Domchorfiguren, bei denen der Bau der Köpfe, der Schnitt
von Augen, Nase und Mund, die Behandlung von Haar und Bart sowie der
Schmuck der Gewandsäume mit Borden und Glasflußeinlagen sehr ähnlich
vorkommt. Aber auch an Straßburg und Reims darf erinnert werden. Trotz
dieser Beziehungen zur gotischen Monumentalplastik, die bis in die Mitte
des 15. Jahrhunders zurückreichen, ist der Altar jedoch keinesfalls aus dem
Westen importiert. Denn die rheinischen Skulpturen aus der Zeit des Rossower
Altars haben ein völlig anderes Gepräge. Man wird in dem Schreinplastiker also
am ehesten einen Norddeutschen vermuten dürfen, der in Südwestdeutschland
gelernt und von dorther auch die bereits bei den Altären von Marienstatt (1524)
und Oberwesel (1555) angewandte Kastenform des Altars mitgebracht hat.
Weitere Arbeiten lassen sich dem Meister bisher nicht zuschreiben. Wohl be-
gegnet man hier und da (z. B. bei den Reliefs des Cismarer Hochaltars und
dem Bocholtschen Chorgestühl im Lübecker Dom) verwandten Stilformen, aber
die Hand des Rossower Schreinplastikers ist nirgendwo wiederzufinden.
Auch bei den männlichen und weiblichen Heiligen auf den Innenseiten der
Flügel sind zweifellos westliche Einflüsse maßgebend gewesen. Die Gestalten
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