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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927

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Heft 19
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Poglayen-Neuwall, Stefan; Poglayen-Neuwall, Stephan: Ein wiederaufgetauchtes Frühwerk Tizians?
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0616

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technik (Tempera mit Harzölazuren) auf Holz gemalt. Die Höhe beträgt 64 cm,
die Breite 50 cm.
Die Madonna in rotem Untergewand und sattem blauen, nach vorne ins Grüne
verlaufenden Überwurf, worunter sich das weiße Kopftuch hervorstiehlt, um-
faßt mit der Rechten den Christusknaben, der auf der Brüstung rechts von der
Gottesmutter steht. Von einem goldfarbenen Tuch umflattert, greift er ihr,
dicht an sie geschmiegt, mit der Rechten unter den Halsausschnitt. In der
Linken hält Maria ein geöffnetes Buch, das mit dem gelbbraunen Einband gegen
den Beschauer gekehrt ist. Der Hintergrund ist links durch einen olivengrünen
Vorhang abgeschlossen, während sich rechts der Ausblick in eine in bräunlichen
und grünlichblauenTönen verschwimmende, abendliche Gebirgslandschaft öffnet.
Ihren Vordergrund nimmt ein breiter, braun getuschter Baum ein, unter dem
wir zwei mit wenigen Farbflecken gegebene, ostwärts enteilende Gestalten er-
blicken. Weiter rückwärts, am Bergeshang, zieht sich eine Siedelung hin.
lin Gegensatz zu der Mehrzahl der frühen Madonnenbilder Tizians, von denen
die unserem Bild formal (und daher auch zeitlich) zunächst stehende »Zigeuner-
madonna« (Abb. 5) in der Wiener Staatsgalerie (um 1502/5 datiert), unddieeben-
daselbst befindliche, um etliche Jahre jüngere »Kirschenmadonna« (Abb. 4) beson
ders zahlreiche Berührungspunkte mit der »mater divinae sapientiae« aufweisen,
ist hier das dem Quattrocento vertraute Hochformat beibehalten. Es ist dieFlächen-
komposition der Renaissance, die Szene auf sich hintereinander staffelnde, parallel
zum Bildrand geführte Schichten gebracht, aufgebaut auf dem Gegensatz von Senk-
rechter und Wagrechter. Das Mittellot, das das Kinn der Madonna schneidet,
um auf die linke Buchkante zu treffen, als Dominante, flankiert von der Verti-
kalen des Kindes und der von dem oberen Ende des Vorhanges durch den Buch-
rücken zu fällenden Senkrechten. Ihnen entgegenwirkend die Wagrechte der
Brüstung und die zu ihr durch die Kniescheibe des Jesuskindes und den Schnitt
des Buches, durch die Armscheibe des Kindleins und die Schultern der Madonna
zu legenden Parallelen. Die Figuren heben sich reliefmäßig vom Hintergründe,
zusammengefaßt zu einem Dreieck, dessen Schenkel, ähnlich wie bei der Kir-
schenmadonna (wo sie in den Bildecken münden) bis an den Bildrand vorstoßen.
Dabei erscheint die Madonna mit dem Kind dadurch, daß der Faltenwurf des
Vorhanges durch den über die Brüstung herabhängenden Mantel aufgenommen
wird (wodurch zwischen Vordergrund und Hintergrund eine Bindung entsteht),
dann aber auch vermittelst des auf die Brüstung aufgestellten Buches, in die
durch Vorhang und Brüstung gegebene Gliederung (mit der auch die Formen
der Landschaft zusammenklingen) einbezogen. Ein gewichtiger Fortschritt
gegenüber dem ähnlich komponierten, breitformatigen Bild der »Zigeuner-
madonna«. Steht hier doch die Gottesmutter ganz für sich da, ohne einen Zu-
sammenhang mit den einzelnen Bildteilen.
Dagegen macht sich der Mangel an Gefühl für das Organische an den Figuren
unseres Bildes in vielleicht noch stärkerem Maße geltend als dort. Man beachte
die Starrheit des linken Armes der Madonna, die flaue Partie um die linke
Hand, achte darauf, wie der Kopf des Kindes auf den Schultern aufsitzt. Wie
denn auch in der Forinengebung einzelne Derbheiten, so die allzu kräftigen
Schatten unter den Augen und an der Nase des Christuskindes (dessen Kopf
aus dem Werke Tizians herausfällt), die breiten, tief schattenden Rinnen und

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