Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927

DOI Heft:
Heft 23
DOI Artikel:
Friedländer, Max J.: Über das Wesen der Kennerschaft
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0750

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
habe ich vergessen 5 eine Bewegung, eine Geste, ein Komplex von Formen und
Farben, in dem sich die schöpferische Persönlichkeit glücklich und eigentüm-
lich offenbart hat, ist haften geblieben als ein erlebtes und genossenes, nicht als
ein verstandesmäßig gebuchtes Merkmal. Ein Erinnerungsbild von dieser Art
ist in mir produktiv geworden, so daß ich Äußerungen jener schöpferischen
Persönlichkeit, die ich mit leiblichem Auge nie erblickt habe, hervorzubringen
vermag.
Mit wissenschaftlicher Feststellung etwa in bezug auf den Farbstoff, den ein
Maler verwendet habe, kommt man nicht weit, da ja seine Schüler und Nach-
ahmer, im besonderen seine Ateliergenossen, technisch nicht anders als er ge-
arbeitet haben. Wenig nützt es, eine Farbennuance nach irgendwelcher Tabelle
zu notieren. Nicht auf chemisch oder optisch konstatierte Beschaffenheit kommt
es an, die man übrigens aus den oben angedeuteten Ursachen zumeist gar
nicht festzustellen vermag, sondern auf die Funktion der Form und der
Farbe. Und als Ausdruckswert hängt jeder Teil zusammen mit anderen Teilen
und dem Ganzen. Die Analyse zerstört den Zusammenhang, von dem die
ästhetische Wirkung ausgeht. Die schöpferische Persönlichkeit äußert sich bald
so, bald anders, sie bevorzugt in einem Falle Formen und Farben, die sie im
anderen Falle beiseite läßt; was sie festhält und durch alle Wandlungen be-
wahrt, den Rhythmus ihres geistigen Wesens, ihr unzerstörbares Temperament
erfassen wir, indem wir uns einfühlen in ihre Gestaltungsabsichten, indem wir
ihr Schaffen miterleben und Vordringen zu dem konstanten Kern, von dem die
mannigfaltigen Äußerungen ausstrahlen. Freilich: ein festes und dauerndes
Zentrum der Persönlichkeit mag nur in unserer Einbildung bestehen. Aber: nur
soweit die Wirklichkeit diesem Wahn entspricht, reicht die Aktion der Stilkritik.
Subjektiv ist schon das Beobachten des einzelnen Kunstwerks, wieviel mehr
meine Gesamtvorstellung, weil ja individuelle Neigungen und Vorurteile Zeit
gehabt haben, den objektiven Anteil an den Blickerlebnissen zu färben. Was
ich erblicke, ist subjektiv, wessen ich mich entsinne, doppelt subjektiv.
Die Kenner sind oft Snobs der Gelehrsamkeit, trachten deshalb nach objek-
tiver Beweisführung und suchen den Anschein zu erwecken, als ob sie durch
gedankliche Kombination oder durch Feststellung meßbarer Merkmale in
gründlichem und schwierigem Studium die Wahrheit entdeckt hätten. Er-
fahrungsgemäß verdanken sie ihr bißchen Erkenntnis dem reproduzierenden
Talent. Freilich kann man das Instrument schärfen. Je mehr wir wissen, um
so mehr sehen wir. Alles, was wir gelesen haben, alle gedanklichen Kategorien,
die, nach denen die Kunstgestaltung geordnet worden ist, wirken mit beim Be-
obachten, beim Sich-Entsinnen, bei Bildung der Gesamtvorstellung. Aber: der
Kenner ist in ähnlicher Lage wie der Schauspieler oder Sänger, die beim Spielen
und Singen nicht an die Ratschläge ihrer Lehrer, nicht an den Bau ihres Kehl-
kopfes denken dürfen. Das Lernbare muß erledigt und überwunden sein.
Die Bilderkenntnis hat viel gemein mit der Menschenkenntnis. Wir kennen
einen Menschen, mit dem wir jahrelang in Vertraulichkeit verkehrt haben,
ohne daß wir uns jemals seine Gestalt und seinen Charakter klargemacht
haben. Wir sind außerstande, Fragen nach seiner Nasenform oder Haarfarbe
zu beantworten. Und unsere Verlegenheit, wenn wir über seinen Charakter
aussagen sollen, gipfelt in der Antwort: Charaktere gibt es in Romanen, nicht

722
 
Annotationen