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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Oktober-Heft
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Schmidt, Leopold: Die Zukunft der Sinfonie
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0084

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1. Selbst wenn die Möglidikeiten der sinfonischen Erfindung, wie wir sie kennen, ersdröpft
sein sollten, wird dodr die Gattung als solche nicht aufhören zu existieren, da künstlerisdre
Individualitäten, die etwas zu sagen haben, schwerlich auf diese freieste und natürlichste musikalisdre
Bekenntnisform verzidifen werden.
2. Dem Musiker von darstellerisdier Sdiöpferkraft wird auch künftig die Sinfonie, in der
sich die Souveränität des musikalischen Ausdrucksvermögens am reichsten und umfassendsten
bekundet, ein unentbehrliches Mittel bleiben.
3. Das natürliche Bedürfnis nadr Ausdruckssfeigerung, das in jeder kunsfgesdiidiflidien
Entwickelung das Verhältnis von Form und Inhalt regelt, wird die Sinfonie verhindern, zu ihrer
ursprünglichen, im wesentlichen formalen Gestaltung der künstlerisdren Idee zurückzukehren.
Troß möglidrer Sdiwankungen und Abirrungen wird sie vielmehr den eingesdilagenen Weg
voraussichtlich weiterverfolgen. Programmsinfonie und sinfonisdie Diditung wären demnadi nicht
Endziele, sondern lediglidr Etappen auf diesem Wege.
* *
*
Das Bild, das man sidi von der Sinfonie der Zukunft machen möchte, bliebe unvollständig,
ja es mühte falsdr und unzutreffend werden, wollte man den positiven Ergebnissen einer
geschichtlichen Betrachtung nicht die negativen Resultate, d. h. in diesem Fall die sie einsdiränkenden
Erwägungen gegenüberstellen. Es ist beispielsweise immerhin fraglich, ob die Sinfonik im
musikalischen Gesamtschaffen je wieder die Stellung wie zur Zeit ihrer höchsten Blüte einnehmen
wird. Wir dürfen nicht vergessen, daß inzwischen ein gut Teil der sinfonischen Musik, und nidit
der wertloseste, in die Opernpartituren abgewandert ist. Das war sdion bei Wagner der Fall,
den wir in großen Strecken seiner Dramen zu den Sinfonikern redmen müssen, und das gleidie
Phänomen läßt sich bei Richard Strauß beobachten. Je mehr die Oper der Zukunft sinfonisdie
Elemente in sich aufnimmt, um so mehr würde naturgemäß die selbständige Sinfonik an Bedeutung
und Umfang verlieren. Sie würde damit gewissermaßen in den Sdioß der Kunstgattung zurückkehren,
aus der sie einst hervorgegangen ist. Indessen dem rein Ordiestralen sind in der Oper Grenzen
gesteckt, und auch sonst ist, wie schon gesagt, nidit anzunehmen, daß eine völlige Aufsaugung
je eintreten könnte, selbst wenn die Zukunft dem Drama als dem vollkommensten Spiegel des
Lebens eine über die unserer Tage noch hinausgehende Werfschäßung entgegenbringt.
Soll ferner die Sinfonie eine selbständige, in sidi selbst gereditfertigte Kunstform bleiben,
so kann sie auch nicht nur Ausdrucksmusik werden, nicht lediglidi „Darstellung“ eines Vorgangs
sein. Die Tenderizen, die sie durdi das Programm und als sinfonische Diditung in sidi auf-
genommen hat, müssen in den Prinzipien des Musikalisch-Formalen ihr Gegengewidit finden;
der Kampf zwischen beiden Schaffensmotiven muß nadi allen Experimenten wieder zu einem
Ausgleidi führen. Aus diesem Gefühl heraus erklären sich die Versudie, die alte Form neuen
Ideen nußbar zu machen, denen wir bei Mahler und verschiedenen modernen Meistern des In- und
Auslandes begegnen. Eine auch nur vorläufige Lösung des Problems wird man freilich darin
nicht erblicken können.
Aus dem allen ergibt sich folgendes: Die klassisdie Sinfonie schuf sidi eine natürlidie,
überaus gliicklidie Ausdrucksform. Was sie gestaltete und bewegte, waren die Gegensäße der
Grund- und Urstimmungen menschlidien Empfindens. Sie fanden ihren Ausdruck in den gegen-
sätzlichen Charakteren der verschiedenen Säße wie in der Struktur jedes einzelnen Saßes.
Unserem Zeitalter mit seinem differenzierteren Empfinden und dem erweiterten Darstellungsvermögen
der modernen Musik entsprach dieses Schema nidit mehr. Die sinfonisdie Dichtung zog äußerlidi
die klassische Sinfonie zusammen, indem sie inhaltlich sie zugleidi bewährte. Alles hängt nun davon
ab, ob es der Zukunft gelingt, sich eine neue, ähnlich glückliche und ebenso natürlidie sinfonisdie
Form zu sdiaffen.
 
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