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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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November- Dezember-Heft
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Moser, Hans-Joachim: Nationalismus und Internationalismus in der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0210

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Ihr eigenartiges Wesen haben sie aus der heimi-
schen Volksmusik bezogen, ch h. von einer mög-
lichst lange streng abgeschlossenen Übung und
Verarbeitung sdiließlidi viellcidif auch fremder
Einflüsse durch das eingeborene Volkstum.
Diesem Nationalkolorit aber sozusagen die
literarische, weltgültige Nüance, die rund für
ein Jahrhundert verbindliche Mischung und
Schattierung gegeben zu haben, ist fast für
alle nationalen Tonsprachen Europas die Lei-
stung der deutschen Romantik gewesen. Von
der Plattform einer deutschen Norm aus, die
eben damals die europäische Hegemonie besaß,
haben Beethoven, Mendelssohn, Gade, Bruch
das „Sdioffisdie“, Haydn, Schubert, Liszt,
Brahms, Joachim das „Ungarische“, Spohr,
Schumann, Jensen, Wolf das „Italienisdie“
und „Spanisdie“ abgeseßt, und wenn Glinka,
Tschaikowsky, Rubinsfein eine „russische“,
Smetana und Dvorak eine „fschediische“, Hart-
mann undGrieg eine „skandinavisdre“ Ausdrucks-
weise stabiliert haben, so waren das alles doch
zunächst nur Dialekte der deutschen Romantiker-
sprache. Selbst das musikalische „Französisch“
des 19. Jahrhunderts derBerlioz, Gounod, Thomas,
Massenef, Saint Saens usw. ist zumindest in
steter Abredmung mit Beethoven, Weber,
Wagner und Brahms zur Ausprägung gelangt.
Das erklärt z. T., weshalb ein „deutscher“
Tonjargon nicht so stark als solcher hervorfritf:
er selbst ist der Archimedische Drehpunkt
innerhalb des ganzen Rotationssystems — außer-
dem empfindet man selber wegen des mangelnden
Eigenabstandes die Muttcrspradie als Dialekt
gleidi anderen Dialekten erst dann, wenn man
die naive Befraditungsweise durdi historische
oder vergleichende Studien überwunden hat.
Der romanische, der slavisdie Musiker weiß
recht wohl fonkünstlerische Germanismen als
soldre aufzuzeigen.
Sehr lehrreidi für die Entsdreidung, ob uns
nationale Abschließung oder internationale Öff-
nung der nrusikalisdren Landesgrenzen bevor-
sfeht oder heilsam wäre, ist ein Blick in die
Vergangenheit der deufsdren Fonkunst. Die
Musikgesdridife wie die Kunsfgesdridife über-
haupt zeigt uns in der Abfolge der Sfilepodren
einen regelmäßigen Kurvengang, dessen Einzel-
sdrwingungen mit dem stets zunehmenden Tempo

des kulturellen Werdens und Vergehens sidr
nach der Gegenwart hin immer rasdrer folgen.
Auf che mittelalferlidne Epodre der Universal-
kirche und des Universalkaisertums, der in der
Literatur die internationales Möndislafein redende
Geisflidrendichtung und in der Musik die
wahrhaft ökumenisdie Gregorianik zur Seite
stehen, folgen nafionahsfisdie Zeiten, wo die
Volkskönigreidie erstarken und die National-
spradicn in Minnesang, Troubadourkunst und
Minstreltum hohe musikalische Eigenleistungen
erreichen. Wieder eine internationalistische
Welle bringt die Gotik und Sdiolastik des
15. Jahrhunderts, wo in allen Ländern die
Kontrapunktkünste der Niederländer herrschen,
Engländer und Deutsdie, Franzosen und
Spanier, Italiener und Holländer ungefähr den
gleichen Stil spiritueller Vielstimmigkeit schreiben,
und der (afeinisdie Hymnus ebenso wie die
französische Chanson die textlidie Ahnende
des musikmachenden Europa darstellt. Eine
neue Emanzipation der einzelnen Volksfiimer
bringt die Reformation: deutsdie, französische,
niederländische, italienische Schreibweise trennen
sich deutlidi, genau wie die literarisdien Häupter
der damaligen Stämme sdiärfer ausgeprägte
Nationaldiarakfere zeigen: Aber sehr bald
überzieht ein weiterer Universalismus den Kon-
tinent, die Renaissance, musikalisch in ihren
Ursprüngen auf die »musica riservata«, die
Affektenäsfhefik eines Josquin de Pres zurück-
gehend — das Madrigal und die Canzoneffe
mit all ihren bedeutsamen Begleiterscheinungen
der farbigen Flädienwirkungen, der Charakte-
ristik, Akkordik, der Sopranmelodik und des
Fundamentbasses treten ihren Siegeszug bis
nach England und nach Norddeufsdiland hin
an. Die Oper, das ausgeprägteste Erzeugnis
musikalischen Italienerkims, schlingt das Band
nodi fester, und Farbenglut wie Formenschwulsf
des Barock schlagen alle kleinen Reaktions-
versuche nationalen Sinnes (man denke an die
Hamburger deutsdie Oper um 1700) bald
wieder nieder, bis Sturm und Drang samt
ihrer Erfüllung, der Romantik, völlig die Fesseln
aufgeklärten Europäertunis sprengen, und das
19. Jahrhundert als das romantisch-nationalistische
Säkulum schlechthin die bisher weitestgehende
Spezialisierung völkischer Tonidiome gebracht

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