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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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November- Dezember-Heft
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Moser, Hans-Joachim: Nationalismus und Internationalismus in der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0211

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hat. Freilich, gegen die neue Jahrhundertwende
hin sind sidr wieder kurze Internationalismen
gefolgt — erst wagnerten alle Kulturvölker,
dann rezipierten sie den neuitalienischen Verismus,
den ein d'Albert heute genau so echt parliert
wie ein Mascagni oder Puccini. Es ist bei
so geringem zeitlidr-räumlidren Abstand aller-
dings sdrwer, heute sdron zu sagen, ob diese
Bewegungen parallel zum malerischen Expres-
sionismus Vorboten einer neuen welf-
bürgerlidien Ära sind oder bloße Einzel-
erscheinungen bedeuten, die ebenso durch die
modesdiaffende Überredungsgewalt starker
Persönlidikeiten wie durdr die moderne Frei-
zügigkeit und Erleiditerung alles Weltverkehrs
begünstigt werden.
Der eben gegebene knappe Überblick lehrt,
daß die internationalen Epodien zugleich über-
wiegend soldre des bewußt experimentierenden
Artismus, die nationalen Zeitabsdrnitte dagegen
mehr soldre des naiv gestaltenden Gefühls
gewesen sind. Predigt nicht das gregorianisdre
Zeitalter Abtötung des Fleisdres und Unverrück-
barkeit der erklügelten Lehre, das Zeitalter der
Minne dagegen freien, kindlidren, laienfröhlidren
Herzenserguß ? Und noch einmal siegt die
gelahrte Tonsaßwissenschaft über den klang-
seligen Liedergeist in der meist erstaunlich
unsinnlichen, formal kühn aufwärtsringenden
Problematik der Okeghemzeit, bis die Gefühls-
gewalten der Mystik zum volksliedgewaltigen
Durdrbruch der Reformationsmusik mit ihren
tunrb hingehauenen Massenchorälen führt. Der
antikisierende Humanismus mit seinem südlich
orientierten Ideal leitet durdr seine Odenkompo-
sitionenhalb wider Willen auch in Nordeuropa die
nädrste internationalistische Bewegung ein; aber
dah diese in der Verlautbarung der Leiden-
sdraften hödrstes geleistet, darf nicht darüber
hinwegtäusdren, dah sie so bewußt, so klug,
ja so raffiniert wie nie zuvor ihre Mittel
studiert, ihre Tränklein genrisdrt hat — hier
war man weltenweit von spontaner Schaffens-
sdrwelgerei, von selbstvergessenem Sensualis-
mus entfernt. Man versinnlichte „AffettD sehr
bedeutend, aber man empfand sie selber zienr-
lidr wenig; ganz große Menschen wie Claudio
Monfeverdi nafürlidh ausgenommen, der ebenso
wie ein Sebastian Badr abseits von allen

Verallgemeinerungs-Möglichkeiten steht, breilidi,
Badr in seiner herben Abgesdrlossenhcit, fern von
allem platten Rationalismus ist viclfadr audr nur als
Produkt gröberer Kulturbewegungen zu begreifen:
in jenem Zeitalter, wo das Sonnenkönigtum von
Westen und ein später Marjnismo von Süden
her Deutschland zu entnationalisieren suchten,
bildete er als größter musikalischer Vertreter
des gefühlsstarken Pietismus den Verbindungs-
punkt, der von der alten Mystik über die nationali-
stisdre Reformation zur innigen Empfindungs-
welt Jung Goethe und Jung Beethoven hinführen
sollte. Man erinnere sich, mit welchem Spott
und Hohn der Aufkläridrt eines Nicolai über
die holde Vofksliedkunst der Reformations-
musiker herfiel — sein „feyner kleyner AlmanadH
sollte ja nidrts als eine Persiflage der herrlichen
Forstersdien, Finckschen oder Oftsdren Samm-
lungen sein!
Doch genug der historisdren Riicksdiau;
suchen wir aus ihr Nutzanwendung» für
Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. . . Eines
ist gewiß: bei allzu strenger Abschließung
gegen fremdländische Einflüsse (die Möglich-
keit soldrer künstlichen Isolierung überhaupt
einmal vorausgesetzt) würde die Tonkunst audr
des geistig reichsten Volkes schließlich an
Inzucht zugrunde gehn. Ohne eine tausend-
jährige, immer erneute, immer wieder von anderer
Seite gekommene Blutzufuhr wäre die deutsche
Musik vermutlich über den alpinen Jodler nidrt
viel hinausgediehen. Was ihr allein die süd-
europäischen Kirchentonarten an Entfaltungs-
möglichkeiten zugebracht haben, ist kaum zu
ermessen; von anderen, romanischen Schmieg-
samkeiten etwa rhythmischer Natur ganz zu
schweigen. Es kann der deutschen Fonkunst
also nicht im mindesten schaden, wenn sie
auch weiter an fremdem Geisfesgut nicht
hochmütig vorbeigeht. Aber sie adrte wohl,
sich daran nidrt zu überfüttern. Wie der
Hygrometer zeigt, daß trockene Luft nur
bis zu hundert Prozent ihrer Sättigungs-
fähigkeit Feuchtigkeit aufnehmen kann — was
mehr ist, sdreidet als Regen wieder aus —,
so zeigt die Musikgeschichte, daß audi jedes
Volkstum nur bis zu einer gewissen Grenze
fremde Kunst zu verdauen vermag. Leider
tritt jedodr hier nicht eine automatisdre

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