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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Februar-Heft
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Mierendorff, Carlo: Erneuerung der Sprache
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0433

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die alle umschließt, Planke zu kurz zwisdien den Graten, die uns zerklüften. Gibt es anderen,
größeren Maßstab für den Wert von Mens dien, als den der Uberzeugungshaftigkeit? Die Fähigkeit,
Diesen oder Jenen zu bestimmen, in den eigenen Schwung, sei er nun gewaltig, sei er nur flach,
hineinzureißen, sdieint mir mehr als die beste ganz auf sich gestellte Leistung. Sie ist selten geworden.
Ein Abbild dieser Zersplitterung der anardrischen Zerrissenheit, des unbekümmerten Nebeneinander-
herlebens gibt die Sprache, die Gott gab, als das unzerstörbar starke einzige Band, das alle
umfaßt und alle Zusammenhalten kann. Sie wurde von den Mensdien zerstört. Die wirkliche
Verwirrung von Babel gesdiah erst im vorigen Jahrhundert, denn was bedeutet die Trennung
in tausend Idiome gegen die Zerspellung in eineinhalb Milliarden Einzelner? Was mußte da
aus der Sprache werden, wo jegliches Gemeinschaftliche aufgehört hat, wo Sezessionen über
Sezessionen sind. Das Konzert des Kontinents von 1914 war ein gigantisdies Solisfengezwitscher,
kein Symphon. Jede Logik fand ihre Jünger, jede Losung Freiwillige, jede Tribüne Applaus.
Irren in Wildnis, kein Zuschnitt auf das Widrtigsfe. Man pries die Mannigfaltigkeit, es war
Tohuwabohu. Betrieb hatten wir, keine Briiderlidikeit. Ellenbogen, kein Händereidien. Menschtum
zerfiel. Gestoßen in den Strudel der Gesdräftigkeit schurrten die Individuen aneinander, wie
Steine sich in Gießbächen abschleifen. Moränen Schutt fielen zur Seite. In Großstädte ineinander-
gepfercht, frönend um Existenz, lebte der Mensch, Augen geradeaus, stumm nebeneinander her.
Müde nebeneinander, fremd zu einander. Und so entwickelte sich die seltsame Fähigkeit, die
Welt immer mehr durdi das Auge zu empfangen. Der Mensch hört sdion mit den Augen.
Da es unmöglidi ist, so vielen Nächsten nahe zu kommen, treibt er vorüber: stumm Passant
an Passant vorbei, stumm sidr gegenüber in Trams und Vorortzügen, stumm in Stockwerke
geschichtet. Wo hätte er die Gabe pflegen sollen, zu einander zu kommen, Innerstes austauschend,
sidr zu geben und zu empfangen? Wann reden nodr (o Rarität) Redner von Aufodädiern herab?
Die stumme tonlose Zeichensprache der Leitartikel hat sie längst verdrängt. Das Wort wurde
Schemen. Sagt einer „Baum“, „Pferd“ oder „Himmel“ — da leuchtet nidrts mehr auf. Man lebt
nur nodr vom Bilde: der Lustbarkeit der illustrierten Blätter, den Rhapsodien langen Kinodramas.
Dazu kommt jener plößlidr mitwirkende Zustrom der untersten Mensdren, die nicht bloß Beachtung
heisdren, sondern an allem teilnehmend, Anspruch und Berücksichtigung erzwingen. So profilieren
sie die Kultur irgendwie. Sie, die Klasse der ohne Gedrucktes Lebenden, die mit dem Sprach-
schaß von 60 Worten, die vielleicht nodr ein Flugblatt erreicht — in einer Wahlkampagne.
Seht also die zwei Seiten: von unten die nodr nicht zur Station heiligender Mitteilsamkeit Durch-
gebrochenen, oben der irre Veitstanz in bedrucktem Papier. In Saus und Braus verjubelt man
die Worte. Jede Prägung verschleißt. Revolution und endlose Wahlkämpfe, Millionenauflagen und
Gesdrwäßigkeit haben das Wort endgültig degradiert; es ist billig und sdral und kann niemand
mehr berausdren. Wie wir Papier haben statt blankem Gold, haben wir Sdrall und Speidrel
aus dem Maul, nicht harte, gezirkelte elastisdre, zu festem Sdrnitt gesdrärfte Klinge der Spradre.
(Die beste Tat Lewins war, daß er in München — revolutionär! — alle Zeitungen verbot. Eine
war genug. Der Mensch stehe auf sich und seinem Nädrsten; das war prophetisdi. Das
war radikale Operation, heilsame Operation.)
Wie aber, mit dieser Spradre, diesem sdi artigen Messer sollen wir daran gehen, die zukünftige
Menschheit zu modellieren? Mit dem Jargon der Morgenblätter und dem Geklatsch der five o clocks?
Das geht nicht gut. Wir müssen weiter vor.
Zurückgestoßen, verbannt und verladit, arbeiten daran — vielleidrf liegt das unendhdie Ziel
nicht so nahe und so klar ihnen vor Augen — die Didrter. Die aus jeder Zeile, jedem Vers
den ungeheuersten Respekt, die tiefste Ehrfurcht vor dem Wort beweisen. Expressionismus,
der die Sprache siebt, nichts will, als für jede Sache den treffendsten, knappsten und deutlidisten
Ausdruck. In dem Wort selbst die ganze Dynamik eines Vorganges. Das ist (sieht man die
Bäuche Ullsteins) Askese; das ist nicht Spielerei oder Flirnverrücktheit. Hunger ist ein feiner
Markscheider. Die Didrtungen dieser Generation zeigen eine Gcladenheit, die wie Muskelspiel

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