Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0503
DOI issue:
März-Heft
DOI article:Kayser, Rudolf: Ueber Hermann von Boetticher
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alter Stoffe. Sie sind vielmehr neue Formgebung einer Idee, die eben im Mythos
ihre sinnliche Erscheinung fand. Boeiiicher griff zur Bibel, dieser großartigsten
Brücke zwischen mystischer Fülle und klarer Geistigkeit, und fand in der Gestalt
des Jephta drei Ideen stärkster Aktualität vereinigt: Führertum; Pazifismus;
Opfer. Abweichend vom biblischen Stoff wird Jephfas Entfernung von Israel
nicht durch seine Herkunft als „Herrenkind“ erklärt, sondern durch seine stärkere
Innerlichkeit. Erst dadurch bekommt sein Führertum Ausmaß und Profil, und
Friedlichkeit und Kampfentschluß den Charakter ragender Einsamkeit. Die Ver-
knüpfung dieser Ideen mit seinem Gelübde und dem Opfer der Tochter ist bei
Boetticher ebenso wenig zwingend wie im Alten Testament. Immerhin erwacht in
diesem Drama, dessen Sprache etwas unter formaler Würde leidet, eine sehr inner-
liche Problematik, die über Schlagworte und Ekstase weit hinausgeht.
Boettichers bisher stärkste dramatische Dichtung ist „Die Liebe Gottes“, eins
der mächtigsten Bekenntnisse neuer Innerlichkeit, weil sie eine der wenigen Werke
ist, das nicht schreit, aber auch nicht feststellt, sondern in straffer, sehr konzen-
trierter Szenenfolge heutiges Schicksal formt. Dadurch ist dieses Drama eins der
wichtigsten jenseits der Linie Hasenclever-Unruh. Es ist hier der Stationsweg
eines Jünglings gezeichnet, der durch Alltagsgestalten und Gesellschaftsgruppen
unserer Tage, vor dem glühenden Hintergrund der politisch-sozialen Revolution,
seine Entscheidungen nach innen sucht. Was dieses Werk vor allem charakterisiert,
ist, daß bei dem sichtlichen Bekennen und Eigenen der Hauptgestalt doch als
Substanz die Zeit wirksam ist. Eigenes Erleben formend, gestaltet sich dem Dichter
Not und Suchen unserer dunklen Gegenwart. Vielleicht wird unsere seelisch-geistige
Lage noch einen stärkeren geistigen Ausdruck, frei von jeder Psychologie, erreichen.
Die reine Beziehung aber männlichen Erlebens zu einer tragisch erregten Viel-
samkeit ist sicher hier bedeutend gestaltet.
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ihre sinnliche Erscheinung fand. Boeiiicher griff zur Bibel, dieser großartigsten
Brücke zwischen mystischer Fülle und klarer Geistigkeit, und fand in der Gestalt
des Jephta drei Ideen stärkster Aktualität vereinigt: Führertum; Pazifismus;
Opfer. Abweichend vom biblischen Stoff wird Jephfas Entfernung von Israel
nicht durch seine Herkunft als „Herrenkind“ erklärt, sondern durch seine stärkere
Innerlichkeit. Erst dadurch bekommt sein Führertum Ausmaß und Profil, und
Friedlichkeit und Kampfentschluß den Charakter ragender Einsamkeit. Die Ver-
knüpfung dieser Ideen mit seinem Gelübde und dem Opfer der Tochter ist bei
Boetticher ebenso wenig zwingend wie im Alten Testament. Immerhin erwacht in
diesem Drama, dessen Sprache etwas unter formaler Würde leidet, eine sehr inner-
liche Problematik, die über Schlagworte und Ekstase weit hinausgeht.
Boettichers bisher stärkste dramatische Dichtung ist „Die Liebe Gottes“, eins
der mächtigsten Bekenntnisse neuer Innerlichkeit, weil sie eine der wenigen Werke
ist, das nicht schreit, aber auch nicht feststellt, sondern in straffer, sehr konzen-
trierter Szenenfolge heutiges Schicksal formt. Dadurch ist dieses Drama eins der
wichtigsten jenseits der Linie Hasenclever-Unruh. Es ist hier der Stationsweg
eines Jünglings gezeichnet, der durch Alltagsgestalten und Gesellschaftsgruppen
unserer Tage, vor dem glühenden Hintergrund der politisch-sozialen Revolution,
seine Entscheidungen nach innen sucht. Was dieses Werk vor allem charakterisiert,
ist, daß bei dem sichtlichen Bekennen und Eigenen der Hauptgestalt doch als
Substanz die Zeit wirksam ist. Eigenes Erleben formend, gestaltet sich dem Dichter
Not und Suchen unserer dunklen Gegenwart. Vielleicht wird unsere seelisch-geistige
Lage noch einen stärkeren geistigen Ausdruck, frei von jeder Psychologie, erreichen.
Die reine Beziehung aber männlichen Erlebens zu einer tragisch erregten Viel-
samkeit ist sicher hier bedeutend gestaltet.
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