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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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April-Heft
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Istel, Edgar: Musikdrama oder Oper?
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0631

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111 * ■TTmTI—Wir1
also kein Feind der „konventionellen“ Form, die sich organisch und logisch im
Laufe von zwei Jahrhunderten herausgebildet hatte. Wie sdiarf bereits die Zeit-
genossen Glucks erkannten, worauf es bei diesem periodischen Wedrsel ankam,
zeigt ein fast unbekannter Brief des Dichters Flerder an Gluck vom 5, November
1774 (»Steiermärkische Zeitschrift« 1830, Heft 10):
„Der grolle Zwist zwischen Poesie und Musik, der auch beide Künste so weit
auseinandergebracht hat, ist die Frage: welche von beiden soll dienen? welche
herrschen? Der Musiker will, daß seine herrschen soll; der Dichter auch, und da-
her stehen sie sich oft im Wege, Jeder will ein sdhönes Ganzes liefern und be-
denkt oft nicht, daß er nur einen Teil liefern müsse, damit in der Wirkung aller
beiden erst das Ganze werde.“
Auf Glucks Reform folgte wieder eine Periode der musikalischen Vorherrschaft,
die ihren unüberbietbaren Höhepunkt in Mozarts Werken fand. Hier kam der
ideale Ausgleich zwischen Musik und Poesie zu Stande, ein Ausgleich, wie er
niemals vorher oder nachher wiederum erreicht wurde. Während Glucks Reform
in Paris den großen Streit der Buffonisten und Antibuffonisten hervorrief, gelang
es Mozart, die Vorzüge beider Kunstrichtungen, der Gluckschen wie der Neapoli-
tanischen, in seinem einzigartigen Genie zu verschmelzen und somit der Weit
unsterbliche Meisterwerke zu schenken. Gegen die Tendenzen der Mozart nach-
folgenden Italiener, die Virtuosität der Sänger als Selbstzweck zu proklamieren,
und gegen die Pariser „Grolle Oper“, welche allmählich den Aufwand riesiger
dekorativer Mittel, Chor- und Ballettmassen übertrieben hatte, gegen dieses ro-
manische Opernwesen wandte sich nun mit aller Schärfe Richard Wagner, ob-
wohl er die ganze erste Hälfte seines Lebens gerade aus den später von ihm so
bekämpften Richtungen seine wirkungsvollste Technik erlernt hatte, Wagner,
sonst zumeist auf der deutschen romantischen Oper (Weber, Marschner) fugend,
formulierte „die inneren Widersprüche des ganzen Genres“ in seiner Schrift »Oper
und Drama« mit folgenden Säßen: „Absolute, ganz für sich allein genügende
Melodie und — durchgehends wahrer dramatischer Ausdruck, hier mußte not-
wendig eines geopfert werden, — die Melodie oder das Drama. Rossini opferte
das Drama; der edle Weber wollte es (in der »Euryanthe«) durch die Kraft
seiner sinnigeren Melodie wieder hersteilen. Er muffte erfahren, daß dies un-
möglich sei.“
Daß mit des einzigen Webers Mißerfolg der Bankrott einer ganzen, jahrhun-
dertelang von den besten Köpfen aller Nationen cntwidcelten Kunstart erklärt
sei, diese merkwürdig unlogische Schlußfolgerung verleitete Wagner zu dem küh-
nen Spruch: „Ich schreibe keine Opern mehr“. Von nun an sollte nicht nur die
Form, sondern auch der Name der Kunstart verpönt sein, und da Wagner später
das Wort „Musikdrama“ ebenfalls nicht recht gelten lassen wollte, so ließ er seine
Werke entweder ohne Bezeichnung oder als „Handlung“, „Bühnenfestspiel“ usw.


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