Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
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August-Heft
DOI article:Keyserling, Hermann: Die Philosophie als Kunst
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kann. — Kants Auffassung gilt uns als die wahre. Sie unterscheidet sich aber
von der Humesdien blob durch die Art der Problemstellung; durch nichts anderes.
Ein formales Moment gibt der Vernunftkritik ihren Wahrheitswert — wie die
Form dem Rodinschen »Kub« seinen SchönheSswert verleiht. Audi die Wahrheit
wird, in diesem Zusammenhang betrachtet, durch ästhetische Qualitäten bedingt,
wie die Schönheit einer Dichtung, einer Statue.
Darum bedarf es zur Entdeckung neuer Wahrheiten des ursprünglichen, innersten
Berufs wie zu jeder anderen künstlerisdien Tat. Die Wissensdiaft fufs nicht. Der
Mann, der durch blol^e Gelehrsamkeit philosophieren wollte, gliche dem Künstler,
der ohne redites Talent, blob als Vollender des akademischen Studienganges, zu
bilden sich erkühnte. Es geht ja zur Not. Besitzt einer selbst bei minimaler
Sdiöpferkraft viel Fleib, viel Erfahrung und soviel Urteil, discernement, dab er
das Schlechte vom Guten mit Sicherheit unterscheidet, so wird er nicht nur fremde
Leistungen befriedigend werten, sondern auch eigene — wofern er sich genügend
Zeit läht, die gliicklidien Einfälle bedächtig aufsammelt und alle minderwertigen
erbarmungslos verwirft — soweit bringen, dab sie nicht schlecht sind. Soweit
kann jede Kunst durch Wissenschaft plus Urteil erseht werden — weiter freilich
nicht: bis zum Nichtschlechten. Oder, wie boshafte Leute sagen: bis zu dem, was
nicht einmal sdhechf ist. Es ist das uferlose Gebiet der akademischen Kunst, zu
der auch die Philosophie allezeit ein bedeutendes Kontingent geliefert hat. Doch
ist das wahrhaft Grobe, Vollkommene — wie wichtig die Disziplin immer sei —
nur durch spontane Eingebung zu erreichen. Stil hat noch keiner erarbeitet, der
ihn nicht ursprünglich besaf>.
Die Philosophie ist also eine Kunst. Verlassen wir die ästhetische Betrachtung
und suchen wir dasselbe Problem nach psychologischen Kategorien zu begreifen,
so gelangen wir zum selben Ergebnis. Wie jede wesentliche Lebensäuberung,
entspringt auch die Philosophie dem gebieterischen Drange der Seele, sich zur
Welt in ein befriedigendes, beglückendes Verhältnis zu sehen, eine Spannung
auszulösen. Sie sucht eine lebendige Beziehung herzustellen zwischen Weltall und
Menschengeist. Bezwecken die anderen inneren Künste etwa anderes? — Goethe,
der den Zusammenhang mit der Natur vielleicht tiefer erlebte, als irgendein
Denker, hatte allerdings nicht viel Sinn für abstrakte Metaphysik. Sein Welf-
empfinden fand in ewigen Versen den entsprechendsten Ausdruck. Beethoven
rang mit dem Weltgeist in Akkorden und Symphonien — es steckt wahrhaftig
nicht weniger Weltsinn in seinen lebten Quartetten, als im vollkommensten über-
lieferten metaphysischen System. Ob Plato, Goethe oder Beethoven: sie alle woll-
ten wohl Gleiches. Nur redeten sie verschiedene Sprachen. Der eine fand in Tönen
den lebendigsten Ausdruck für seinen Welfsinn; der andere in Begriffen und
Ideen. Und sank bei diesem der Schwerpunkt seiner Natur aus dem Verstände ins
Gemüt, so ward die Kritik zur Mystik. So kann es geschehen, dab derselbe Drang
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von der Humesdien blob durch die Art der Problemstellung; durch nichts anderes.
Ein formales Moment gibt der Vernunftkritik ihren Wahrheitswert — wie die
Form dem Rodinschen »Kub« seinen SchönheSswert verleiht. Audi die Wahrheit
wird, in diesem Zusammenhang betrachtet, durch ästhetische Qualitäten bedingt,
wie die Schönheit einer Dichtung, einer Statue.
Darum bedarf es zur Entdeckung neuer Wahrheiten des ursprünglichen, innersten
Berufs wie zu jeder anderen künstlerisdien Tat. Die Wissensdiaft fufs nicht. Der
Mann, der durch blol^e Gelehrsamkeit philosophieren wollte, gliche dem Künstler,
der ohne redites Talent, blob als Vollender des akademischen Studienganges, zu
bilden sich erkühnte. Es geht ja zur Not. Besitzt einer selbst bei minimaler
Sdiöpferkraft viel Fleib, viel Erfahrung und soviel Urteil, discernement, dab er
das Schlechte vom Guten mit Sicherheit unterscheidet, so wird er nicht nur fremde
Leistungen befriedigend werten, sondern auch eigene — wofern er sich genügend
Zeit läht, die gliicklidien Einfälle bedächtig aufsammelt und alle minderwertigen
erbarmungslos verwirft — soweit bringen, dab sie nicht schlecht sind. Soweit
kann jede Kunst durch Wissenschaft plus Urteil erseht werden — weiter freilich
nicht: bis zum Nichtschlechten. Oder, wie boshafte Leute sagen: bis zu dem, was
nicht einmal sdhechf ist. Es ist das uferlose Gebiet der akademischen Kunst, zu
der auch die Philosophie allezeit ein bedeutendes Kontingent geliefert hat. Doch
ist das wahrhaft Grobe, Vollkommene — wie wichtig die Disziplin immer sei —
nur durch spontane Eingebung zu erreichen. Stil hat noch keiner erarbeitet, der
ihn nicht ursprünglich besaf>.
Die Philosophie ist also eine Kunst. Verlassen wir die ästhetische Betrachtung
und suchen wir dasselbe Problem nach psychologischen Kategorien zu begreifen,
so gelangen wir zum selben Ergebnis. Wie jede wesentliche Lebensäuberung,
entspringt auch die Philosophie dem gebieterischen Drange der Seele, sich zur
Welt in ein befriedigendes, beglückendes Verhältnis zu sehen, eine Spannung
auszulösen. Sie sucht eine lebendige Beziehung herzustellen zwischen Weltall und
Menschengeist. Bezwecken die anderen inneren Künste etwa anderes? — Goethe,
der den Zusammenhang mit der Natur vielleicht tiefer erlebte, als irgendein
Denker, hatte allerdings nicht viel Sinn für abstrakte Metaphysik. Sein Welf-
empfinden fand in ewigen Versen den entsprechendsten Ausdruck. Beethoven
rang mit dem Weltgeist in Akkorden und Symphonien — es steckt wahrhaftig
nicht weniger Weltsinn in seinen lebten Quartetten, als im vollkommensten über-
lieferten metaphysischen System. Ob Plato, Goethe oder Beethoven: sie alle woll-
ten wohl Gleiches. Nur redeten sie verschiedene Sprachen. Der eine fand in Tönen
den lebendigsten Ausdruck für seinen Welfsinn; der andere in Begriffen und
Ideen. Und sank bei diesem der Schwerpunkt seiner Natur aus dem Verstände ins
Gemüt, so ward die Kritik zur Mystik. So kann es geschehen, dab derselbe Drang
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