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Heidelberger Zeitung — 1898 (Juli bis Dezember)

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Nr. 150 - 175 (1. Juli 1898 - 30. Juli 1898)
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Telephon-Anschluß Nr. 82.

Ai-. 187.

Donnersiaz, -en 21. Juli

1898.

Wochenchronik.
(Vom 10. Juli bis zum 16. Juli.)
*^6 iv.: Die Einweihung der Kongobahn findet statt.
» 11.: Im Süden von China ist eine anscheinend nicht un-
gefährliche aufständische Bewegung im Gange.
» 12.: Major Esterhazy, dessen Namen in der Dreyfus-
affaire oft genannt worden ist, wird verhaftet.
« 13.: Oberstlieutenant Picquart, der für die Unschuld von
Dreysus so mannhaft eingetreten ist, wird verhaftet.
-- 14.: Santiago kapitulirt in dem Augenblicke, da die
Position der Amerikaner durch die schlechte Witterung
und den Ausbruch des gelben Fiebers ziemlich kritisch
gewprden ist.
» 15.: Der badische Landtag wird vertagt.
-- 16.: Die spanische Regierung hebt mit Rücksicht auf etwa
zu erwartende revolutionäre Bewegungen alle in der
Verfassung enthaltenen persönlichen Rechte zeitweilig
auf.

Deutsches Reich.
Berlin, 20. Juli.
— Aus Digekm ulen, 20. Juli, wird berichtet:
A'e „Hohenzollern" mit dem deutschen Kaiser an
Aord traf nach guter Fahrt bei herrlichstem Wetter gestern
Abend hier ein. Während der Fahrt zeigten sich viele
Aalfische. Die großartige Landschaft erglänzte bis gegen
Mitternacht im herrlichsten Sonnenlicht.
— Heute Vormittag verstarb in seiner Wohnung
b'er Professor L. I. v. Cun y, Mitglied des preuß. Ab-
^ordnetenhauses und des Reichstags, v. Cuny, geb. am
Juni 1833 zu Düsseldorf, war 1870 Untersuchungs-
echter im Elsaß und Vorsitzender des Kriegsgerichts; 1871
1873 Appellationsgerichtsrath in Colmar. 1875 wurde
Zum außerordentlichen Professor an der Universität Ber-
eu ernannt; 1884 Mitglied der preußischen Hauptverwal-
lang der Staatsschulden, seit 1891 Mitglied der Civil-
Oesetzgebungscommission. Mitglied des Reichstags war er
bau 1874 bis 1881, und wieder seit 1884; Mitglied des
preußischen Abgeordnetenhauses seit 1873. Er gehörte der
pationalliberalen Partei an.
Die Arbeiten an dem Dortmund-Ems-Kanal
bud nunmehr so weit vollendet, daß er dem Verkehr über-
leben werden kann. Für den niederrheinisch-westfälischen
^udustriebezirk wird der Kanal wesentlich zu einer Erwei-
terung und Vermehrung der Absatzgebiete beitragen. Vor-
nehmlich soll es dem Kanal gelingen, unserm schärfsten
Konkurrenten auf dem Weltmarkt, England, das vermöge
lenier günstigen geographischen Lage günstigere Transport-
"erhältmsse aufzuweisen hat, mehr und mehr aus dem Feld
schlagen. Der Kanal hat eine Länge von 200,5 kni
Abb ist auf der ganzen Länge mit 19 Schleusen versehen.
Wassertiefe beträgt 2,5 in; in der Sohle ist der Ka-
ttul 18 m und im Wasserspiegel 30 in breit. Das Hebe-
^rk bei Henrichenburg, das sich 16 km von Dortmund
^findet, hat die Aufgabe, den Uebergang der Schiffe aus
ber auf 70 in Seehöhe liegenden Anfangsstrecke zu der
°uf 56 m Seehöhe liegenden Strecke Henrichenburg-Münster
A ermöglichen. Das Hebewerk ist nicht nur in seiner
?roße das erste Deutschlands, sondern es übertrifft auch
M dieser Beziehung die Hebewerke des Auslandes. Trotz
bedeutenden Höhe von 14 w, die das Hebewerk zu
"verwinden hat, geht die Hebung der Schiffe schnell von
amten, so daß nur wenige Minuten dazu erforderlich sind.
der Nähe der bedeutenden Ortschaften hat der Kanal
Hafen- und Schiffsplätze erhalten. Der Dortmunder Hafen
uberststgelt, was seine Fläche anbetrifft, viele andere deutsche
Hofen. Der Dortmund-Ems-Kanal, der etwa 70 Millionen
-vtark gekostet hat und der der größte Binneukanal Deutsch-
oods ist, wird eine weitere Bedeutung gewinnen, wenn er
^"dem Rhein verbunden sein wird.

— Ueber Bebels Villa in der Schweiz schreibt
die Württemberg. Volksztg.:
Die Aufschüttungen in den See zur Vergrößerung von Bebels
Garten müssen mehrere Tausende gekostet haben. Der Werth des
stattlichen Gebäudes mit Garten wird nach mäßigem Anschlag
140000 Fr- betragen, dabei ist die innere Einrichtung nickt in-
begriffen. Das Gebäude enthält drei Stockwerke, jedes Stock-
werk außer den Nebengelassen je fünf schöne Zimmer mit Bal-
lonen, Aussicht auf den See usw. Die zwei unteren Stockwerke
batte Herr Bebel längere Zeil unvermiethet. Seine Mittel ge-
statteten ihm dies. Erst seit letzten Herbst 1897, nach Herrn
Bebels Abreise, wurde der mittlere Stock von Herrn Bebel ver-
miethet, und zwar nm 1400 Fr per Jahr, an eine ortsansässige
Schweizer Familie, beiläufig ein Mielhspreis, der immerhin
einige Schlüsse auf die Wohnräume in diesem angeblich beschei-
denen Hause gestattet; Küßnacht ist ein Dorf. Und erst seit etwa
zwei Monaten ist auch die Wohnung im untern Stocke an eine
Buchhändlersfamilie vermiethet. Da Herr Bebel neuerdings
einen Antrag auf Straflosigkeit der Majestätsbeleidigung gestellt
har, so sei trotz der in Bezug auf Herrn Bebel und Familie
hochentwickelten dynastischen Gefühle der soz.-dem. Presse noch
voran erinnert, daß der „nothleidende" Herr Bebel Reichstags-
diäten aus der Parteikasse bezieht.
Württemberg. R 0 ttenburg, 20. Juli. Das Dom-
kapitel wählte heute den Domkapitular Franz Laver von
Linsemanu, seit drei Jahren Vertreter des Domkapitels
im Landtage und früher Professor an der Universität Tü-
bingen, zum Bischof von Rottenburg.
Aus der Karlsruher Zeitung.
— Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben dem
Bürgermeister Adam Zimmermann in Michelbach die kleine
goldene Verdienstmedaille verliehen, den Oberbetriebsinspektor
Karl Wesch in Eberbach nach Konstanz versetzt, den Bahnver-
walter Bahnhofinspektoc Wilhelm Weiß in Heidelberg zum
Bctriebsinspektor in Eberbach ernannt und den Eisenbahningenieur
Eugen Riegler in Waldshut landesherrlich angestellt.
— Dem Realschulkandidaten Felix Martin in Pforzheim
wurde die etatmäßige - Amtsstelle eines Reallchrers an der er-
weiterten Volksschule (Handelskucs) daselbst übertragen.

Ausland.
Frankreich. Wohin Zola gereist ist, vermag niemand
anzugeben. Manche meinen, er habe sich ins Ausland be-
geben, andere glauben, er halte sich irgendwo in der Nähe
von Paris versteckt. In einer Erklärung in der Aurore
begründet Zola sein Verschwinden aus der Oeffentlichkeit.
Er sagt da u. A.:
Bevor ich vor dem Schwurgericht spreche, will ich, daß der
Kassationshof über die einzige Frage entscheide, an der mir ge-
legen ist: mein Recht Beweise für meine Behauptungen zu er-
bringen. Ich will auch, daß die gegen Esterhazy auf den Klage-
antrag Picqnart's eröffnete Untersuchung Beziehungen enthüllt,
nut denen ich noch nicht das Recht habe, vor Gericht zu argnmen-
tiren- Aber alles Das fürchtet die Regierung. Diese vollständige
Debatte will Brisson ebensowenig wie Mölme. Die gegen mich
angewandte Taktik war einfach. Man wollte das gestrige Ver-
säumniß-Urtheil unterzeichnen lassen, um mich zu zwingen, in
fünfzehn Tagen nach Versailles zurückzukehren, um nochmals meinen
Zeugen den Mund zu verschließen mit diesem brutalen Wort:
„Diese Frage wird nicht gestellt werden." Um dieses Manöver
zu vereiteln, mußte ich der persönlichen Zustellung ausweichen,
das heißt auf gut französisch, mich so einrichten, daß der Gerichts-
diener des Herrn Brisson mich nicht daheim findet, wenn er sein
gestempeltes Papier bringt. Ich denke nicht daran, dem Ge-
fänguiß zu entfliehen. Alle Welt weiß ja auch, daß Versäumniß-
Urtheile nur provisorisch sind- Es handelt sich nur um die An-
wendung jener Mittel, die nöthig sind, um endlich Licht schaffen
zu können in dem kommenden Prozeß. Eine erwürgte Debatte
annehmen, ohne Alles gethan zu haben für die Offenbarung der
Beweise, hieße die lange Mühe dieser sechs Monate preisgeben.
Ich verspreche, mein Ziel zu erreichen, was auch geschehe, im
nächsten Oktober, nach den Ferien, werde ich vor meinen Richtern
stehen. Wieder werde ich den Beweis anbieten und wieder wird
Frankreich die Fanfarenbläser von heute vor der Wahrheit fliehen
sehen!
Die Esterhazyblätter triumphiren über die „Flucht"
Zolas. Zolas Taktik mag vielleicht richtig sein, für den
Augenblick aber wirkt sie entschieden nicht günstig für ihn.

England. London, 20. Juli. Die allgemeine
Theilnahme an dem Unfälle desThronerbcn findet
ihren Ausdruck in dem ununterbrochenen Strome von Be-
suchern, die sich in Marlborough House einschreiben.
Gutem Vernehmen nach hat der «Prinz am Montag und
während der folgenden Nacht bedeutende Schmerzen ge-
litten, dm gestrigen Tag und die Nacht dagegen verhälttniß-
mäßig ruhig verbracht. Im Laufe des Tages wurde die
Bruchstelle mit Röntgenstrahlen untersucht und photo-
graphirt, was im weiteren Verlaufe noch mehrfach ge-
schehen soll. Das Ausgleiten auf der Treppe am Montag
Morgen, eine Stunde vor der Abreise, erklärt sich dadurch,
daß der Prinz neue Stiefel trug, die nach der herrschenden
Mode unter der Sohle sehr glatt polirt waren. Von
ärztlicher Seite verlautet, der Thronerbe werde voraus-
sichtlich mindestens drei Wochen in London das Zimmer
hüten, dann w ahrscheinlich auf einem benachbarten Land-
sitze im Bereiche der behandelnden Aerzte weitere drei
Wochen Sch onung nehmen müssen. Dem Prinzen, der an
ein rühriges Dasein und Bewegung, besonders auch an
Spaziergänge gewöhnt ist, wird die erzwungene Ruhe nicht
leicht. Er ist im ganzen ein guter Patient, befindet sich
auch jetzt in gutgelaunter Stimmung, kann aber nicht
leiden, daß um ihn herum viel Umstände gemacht werden.
Spanien. Am Schluffe eines Feuilletons über den
unaufhaltsamen Niedergang S p anie ns schreibt die Frkf.
Ztg.: Spanien ist das Muster eines katholischen Staates,
die Spanier find eine Nation nach dem Herzen von Papst,
Bischöfen und Mönchen. Jahrhunderte lang hat Spanien
nur den Priestern gehorcht, auf sein eigenes Denken ver-
zichtet, und alle Gegner des Dogmas ausgerottet. Unter
18 Millionen Spaniern giebt cs nur 6654 Protestanten,
402 Israeliten und 9645 Rationalisten. Dies Alles
trotz der großen Anstrengung von Protestanten und Rationa-
listen, die das Volk aufzuklären versuchen. Die Kirche
braucht also nicht zu fürchten, daß die Spanier in ab-
sehbarer Zeit ihr untreu werden. Sie werden gute Ka-
tholiken bleiben und dabei als Nation zu Gründe gehen,
wie sie nacheinander alle ihre Kolonien verloren haben.
Man kann ein solches Volk nicht hassen; man kann es
nur bedauern. Wenn aber die andern Völker an diesem
Beispiele erkannt haben, wohin der klerikale Jdealstaat
führt, dann werden sie gewarnt sein, und sie werden sich
hüten, die Wege zu wandeln, auf denen Spanien in sein
Verderben geführt worden ist.
Türkei. Der Mechverel, das unter Redaktion von
Achmed Risa Bey in Paris erscheinende Organ der Jung-
türken, schreibt anläßlich der bevorstehenden Orientreise des
Kaisers in einem Leitartikel aus der Feder des ehemaligen
türkischen Parlamentsmitgliedes Halil Ganem mit der Ueber-
schrift „Empereur et Sultan" u. A. was folgt:
„Welcher Unterschied zwischen diesen beiden Männern! Wie
verschieden von einander sind sie! Der Kaiser energisch,
thätig, unternehmend; der Sultan schweigsam und apathisch.
Der Kaiser muthig; der Sultan furchlsam. Der deutsche
Herrscher liebt seinen Bruder, ehrt ihn, schenkt ihm Ver-
trauen; der osmanische Herrscher haßt seinen Bruder und
hält ihn im Gefängnisse, dem Niemand sich nahen darf.
Wilhelm fürchtet nichts, nicht einmnl die Freiheit. Abdul
Hamid fürchtet Alles und ... hat Recht, Alles zu fürch-
ten. Ach, könnte doch der Kaiser dem Sultan zwei Dinge
beibringen: die Nothwendigkeit der Züchtigung der Haupt-
schuldigen in der Partei und die Nothwendigkeit der Ein-
führung von Reformen, damit das so tief gesunkene Land
sich wieder aufrichten könnte."
Asien. Sh an gh a i, 20. Juli. Das Flaggschiff „Deutsch-
land" hatHeizproben milder inKi autsch ou gewonnenen

Sklaverei der Schönheit.
") Novelle von M. Zmmisch.
(Fortsetzung.)
. ckber nicht nur der Mann, auch der Künstler erwachte
. u erneuter Kraft in ihm. Was er seit Wochen vermißt,
b,? backenden Stoff, den Drang zu neuem Schaffen, er war
Fantas do ""d entfachte die ganze Gluth seiner feurigen
m fah es deutlich vor sich, das Bild, das ihm sicher volle
^cniedigung gewähren würde, denn Schöneres konnte er
yMmer finden als diese wunderliebliche Wiederholung der
mtur von Mutter und Kind. „Zweite Jugend" wollte er
--Olimen und es sollte dem Künstler und dem Mann gleich-
d uw in Wahrheit eine zweite Jugend bringen.
k„^ue zweite Jugend! Die graue hypochondrische Brille,
-sb er sonst sich und die ganze Welt betrachtete, ver-
arte sich nnd verwandelte sich in das schönste Rosenroth.
s.^?ersaß, daß er nicht mehr der Jüngling war, dessen be-
R11K Aeußere ein Mädchenherz so leicht gewann, daß
stus " Ehre nebensächliche Dinge sind gegen den Ein-
jw" äußerer Schönheit, für deren Zauber ein sechzehnjähriges
moHermuge naturgemäß am empfänglichsten ist.
ibn ^"dieser Stunde fühlte er sich jung und stark, er wollte
,"astig erfassen, den Becher des Glückes, nach dem ihm
st"" Lippen dürsteten.
st>n„ und stürmisch stieg sein Blut in seine Schläfen und
Pulse pochten in dem starken Verlangen, dieses
aocyen an sein Herz zu reißen und es als sein Eigenthum
beanspruchen.
Flnsn*"" "stn Senken sah, was in ihm vorging; sie sah die
amme in seinen Augen, und die Erkenntniß dessen,
Seele 0 wuchgerufen, grub einen peinvollen Stachel in ihre
rnnA°K'H^and Üa auf und, den Arm um eine der weinum-
uniten Veranbasäulen legend, sah sie nachdenklich in den
kurten hinaus.

Heiße schäm überfluthete ihre Seele. Sie liebte diesen
Mann schon längst nicht mehr und doch war soeben eine,
dem Neid verwandte, schmerzliche Bitterkeit in ihr aufge-
stiegen. Und warum?
Großer Gotr! Weil sie sah, wie der Mann, dem sie
einst ihr junges Herz entgegengebracht, der si: kaltsinnig ver-
schmäht, den sie trotzdem bemitleidet als e n Opfer seines
Ehrgeizes, nun im ersten Augenblicke, einem thörichten
Knaben gleich, dem Schönheitszauber eines Kindes — ihres
Kindes — erlag.
Ja, sie liebte ihn schon längst nicht mehr, im Gegentheil
das Bild eines anderen Mannes beschäftigte seit lange ihr
Denken und Empfinden, und doch hatte dieses tägliche Bei-
sammensein mit dem Manne ihrer ersten Liebe, das Gefühl
neu erwachter Freundschaft, des Mitleids und ein Rest der
alten Zuneigung ihr Herz in den letzten Tagen in Unruhe
und Zweifel gestürzt.
Wie schwach und thöricht war sie doch! Aber dies sollte
anders werden. Sie kannte einen festen, zuverlässigen Schutz
gegen diese Irrungen ihres Herzens und sie wollte nicht
zögern, ihn zu ergreifen.
Sie athmete tief auf und ein sanftes, befreiendes Lächeln
umspielte ihren Mund. Eine Vision erhob sich vor ihren
Augen, ein liebes, dunkles Gesicht mit energischen Zügen
und dem festen Blick treuer, brauner Augen. Da war nichts
Halbes, nichts Schwankendes; es war ein ganzer Mann
und sie wußte, daß sie geliebt wurde mit fester, ehrlicher
Mannesliebe.
Ihr Herz klopfte schneller beim Gedanken daran. Wie
hatte sie sich nun können beeinflussen lassen von dem plötzlich
auserstandenen Gespenst ihrer Jugendliebe, von einem Manne,
der der Sklave seines Künsterauges war?
Seltsames Ding solch ein Frauenherz! Sie hatte ihren
Gatten geliebt, mit der ruhigen, gleichmüthigen Liebe,
die durch Achtung erzeugt und durch Güte gefestigt wird.
Sie hatte in angenehmem Frieden gelebt und jetzt, wo sie
älter wurde, erwachte in ihrer Seele ganz unmotivirter
Weise ein nie gekannter Drang nach jenem heißen, er-

träumten Glücke, das ihr in ihrer Jugend vorgeschwebt.
Daß sie viel umworben wurde, genügte ihr nicht; sie wollte
nicht nur geliebt werden, sondern selbst lieben, mit voller,
ganzer Seele, mit all ihrer unverbrauchten, aufgespeicherten
Jugendkraft.
Und es gab einen Mann, in dessen Gegenwart ihre Pulse
beiß und stürmisch pochten und der Liebe Höchstes, der ihren
Glauben und ihr Vertrauen besaß.
Als hätten ihre Gedanken die Kraft gehabt, den
Mann, an den sie eben so lebhaft gedacht, herbei zu
zaubern, so hielt eben Oberst von Giese an dem Gartenthor.
Er warf seinem Burschen die Zügel zu und kam dann lang-
sam heran.
Sein Besuch gerade in diesem Augenblick erfüllte Frau
von Senken mit aufrichtiger Freude. Es kam ihr vor, als
gehörte er zu ihr, als müßten in seiner Nähe alle dunklen
Gedanken, alle Anfechtungen sich verflüchtigen. Vielleicht
las er diese Gedanken in ihren Augen, denn sein Blick
leuchtete auf, und inniger als sonst zog er ihre Hand an seine
Lippen.
Oberst von Giese hatte sich etwas zuruckgezogen seit Fritz
Dellings Hiersein. Eine leichte Entfremdung war zwischen
sie getreten. Er gehörte zu jenen Menschen, die jeden
Wettkampf ruhig bestehen können, die aber zu stolz sind, um
den Gedanken zu ertragen, Jemandem unwillkommen oder
gar zudringlich zu erscheinen. .
Auch Käthe begrüßte ihn mit der kindlich offenherzigen
Weise, die den Grundton ihres Wesens bildeten, und mit
der Freude, mit der man einen lieben, alten Bekannten
wiedersieht.
Sie hatte sich schon in den Ferien des vergangenen
Jahres ausgezeichnet mit Herrn von Giese, der damals noch
Oberstlieutenant war, vertragen. Er hatte ihr Reitunterricht
gegeben und sie bestürmte ihn jetzt mit Bitten, die Fortsetz-
so bald als möglich aufzunehmen. Sein neuer Rang, den er
einer ganz besonderen Bravour im letzten Manöver
verdankte, genirte sie durchaus nicht. Sein schönes, stolzes
Gesicht mit der feinen, kühn geschwungenen Nase und den
 
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