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Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innendekoration — 2.1891

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Die Stilverirrungen bei Bauten und Wohnungs-Einrichtungen
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Zuni-Heft.

Illustr. k u rist g e w e r b l. Zeitschrift für „I n n e n - D e ko r a t i o n".

^eite 8 s

bMtjlverirvungen Sei und o

M

seitdem durch Erhöhung des nationalen Wohlstandes infolge des ge-
waltigen Aufschwunges der industriellen und kommerziellen Verhält-
nisse Deutschlands während der letzten beiden Dezennien die Geschmacks-
Achtung weiter Bcvölkerungsschichten in hohem Maße beeinflußt worden
ist, hat sich besonders die Sucht, das Haus und die Familienwohnung mit Kunst-
gegenständen zu schmücken, zur wirklichen Modethorhcit gestaltet.

wir sprechen hier, so schreibt „Ahlands Industrielle Rundschau", selbstver-
ständlich nicht von denen, deren Abstammung und Lebensstellung eine gediegene
Bildung des Geschmacks in Bezug auf Kunst und Anwendung derselben zur Ver-
schönerung der Häuslichkeit bedingt, sondern von den weit zahlreicheren Vertretern
jener Klassen, die mit den Mitteln auch die Verpflichtung erworben zu haben
glauben, elfteren in keiner weise nachzustehen. Welche Geschmacksverirrungen
hierbei zu Tage treten, zeigt ein Blick auf die meisten modernen Zimmer-Ein-
richtungen, die man im Allgemeinen stilvoll nennt, ohne sagen zu können, welcher
Stil darin zur Anschauung gebracht werden soll. Nur wenige Bevorzugte sind
in der Lage, eine wirklich stilgerechte Zusammenstellung, sei es nun Rokoko,
Louis XVI. oder Empire, italienische oder deutsche Renaissance, konsequent durch-
führen zu können; die meisten wählen unter den mehr oder minder werthvollen
Imitationen, welche das Kunstgewerbe im Laufe der letzten Jahre im Aebermaße
angeboten hat, einzelne ihrem Geschmacks entsprechende Stücke und tragen so nach
und nach ein buntes Durcheinander in ihr Heim, dessen Anblick jedem verständig
Denkenden ein Greuel sein oder mindestens ein mitleidiges Lächeln entlocken muß.

wie wohlthuend eine harmonisch zusammengestellte Umgebung auf Geist
und Gemüth wirkt,
wie viel leichter ab-
gespannte Nerven zur
Ruhe kommen, wenn
nichts schreiend Auf-
fallendes sich dem Au-
ge aufdrängt, kommt
den dem allgemeinen
Strome unserer Tage
nach dieser Richtung
Folgenden nicht zum
Bewußtsein;
ebenso wenig
ist ein ver-
wachsen mit
durch täglich-
en Gebrauch
lieb geworde-
nen Dingen,
ein pietätvol-
les Erhalten
und Ausbe-
wahren er-
erbter und
durch Erinn-
erungen ge-
weihter Ge-
genstände da
möglich, wo
die Sucht
nach Neuem

das unmodern Gewordene ohne Auswahl in die Rumpelkammer verbannt. —

In den meisten Fällen entspricht das Aeußere des Hauses der Geschmacks-
richtung oder vielmehr der Geschmackslosigkeit der inneren Einrichtung; fast über-
all macht sich ein in den geschloffenen Häuserreihen der großen Stadt erdrückend
wirkendes Uebermaß an architektonischem Schmuck bemerkbar, dessen einheitliches
Bild in vielen Fällen durch Aushängeschilder, Schaufenster-Dekorationen usw. in
bedauerlicher weise entstellt wird. Zu den greifbaren Uebelständen der modernen
Bauart, die je länger je mehr zu Tage treten, gehört in erster Linie die wenig
gediegene Ausführung der meisten Neubauten, bei denen eine für unentbehrlich
gehaltene äußere Pracht zum Schaden und Verdruß der Bewohner an Stelle der
Behaglichkeit und Solidität treten mußte, wenn dann nach wenigen Jahren die
Stuckverzierungen und Skulpturen aus weichem Sandstein, den witterungsverhält-
niffen unterliegend, abbröckeln und unscheinbar werden, so liefert ein solches Haus
die treffendste Illustration zu den unausbleiblichen Folgen der heutigen Geschmacks-
richtung und zugleich die Mahnung, nicht weiter mit dem Strome zu schwimmen,
sondern, die eigene Individualität wahrend, unsre Umgebung in Einklang mit
dem uns innewohnenden Sinne für das Gute und Schöne zu bringen.

Dr. Albert Ilg gibt im Feuilleton der „Franks. Zeitung" ein drastisches,
aber sehr treffendes Bild der heutigen Stilverirrungen; er geißelt in scharfer
weise die Sucht, als kunstsinnig gelten zu wollen, nur um es Anderen gleichzu-
thun, und auf die im Baustil gegenwärtig herrschende Richtung übergehend,
fährt er fort:

Lin Neubau soll aufgesührt werden. Der Bauherr wird mit Fragen be-
stürmt. „In welchem Stile soll es denn werden?" — „Doch gewiß deutsche Re-
naissance? Das ist die Kunstweise der Nation!" — „Nein, gothischl Das ist
der poetischste aller Stile!" — „was Ihnen nicht einfällt! Gothisch ist kirchlich-
ultramontan, dem Zeitgeist entspricht nur flottes Rokoko!" — „Empire wäre vor-

Abbildung Nr. ;80. Sofa mit Seidenstoff» Mrürr^ug in Gobelin-Manier.

nehmer, es ist der eigentlich aristokratische Stil!" Endlich entschließt sich der
Bedrängte für irgend etwas. Der Architekt nimmt sich zusammen, er will etwas
recht Gediegenes, Tadelloses zuwegebringen und schneidet also seinen Palazzo
nach den ausgezeichnetsten Vorbildern aus sechzehn alten Mustern zusammen, in
deren Gefäß er alle die Wünsche und Bedürfnisse seines Jahrhunderts, seines
Bauherrn, einer modernen Zinskaserne und ihrer künftigen Bewohner mit saurem
Schweiße einzuschachteln und unterzubringen vermocht hat. Er hat sich dabei
streng in Acht genommen, daß er nicht etwa gegen die rigorosen Gebote sich
versündige, welche die Begriffe der modernen Stilreinheit dem Baukiinstler ver-
schreiben, und nun steht auch ein Werk auf dem Papiere, das sogar dem strengsten
Kritiker entsprechen muß. Und bald steht es auch fertig da, in Stein und Ziegel,
ein Dokument des echten, richtigen Kunstsinns der Gegenwart.

Aber wie lange? — Als er dem Entwürfe einen Palazzo von Palladi»
oder Scamozzi zu Grunde legte, hat es den guten Architekten schon weidlich
genirt, daß das Erdgeschoß in dem Zinshause zu Verkaufsläden eingerichtet werden
solle. Dazu fand er im alten Palazzo kein Vorbild, zeichnete also ruhig eine
Bogenreihe da unten hin mit dem Gedanken: „Sie werden sich darin schon ein-
richten, so gut sie können!" Ans dem Papier sah es noch ganz hübsch aus. Nun
stand aber das Gebäude fertig. Die Wohnungen wurden vermiethet und auch
im Parterre verkündigten Zettel, daß hier „Gewölbe zu vermiethen" seien. Denn
der Hausherr will doch aus seinem Bau etwas herausschlagen. Gleich kommt
auch ein Geschäftsmann und nimmt so einen Bogen. „Ja, aber um Gotteswillen l
wer kann denn da eine Auslage etabliren? Ich werde mich doch nicht mit

einer so schmalen
Thür begnügen, durch
die kein Mensch sieht,
was im Laden ist?"

— „Ja, das erheischt
die Architektur!" —

— „Hol' der und je-
nerIhre Architektur I"
Ich brauche Platz für
einen Schaukasten, um
meine waare zu zei-
gen, da mir
sonst Nie-
mand herein
geht. Uebri-
gens sind da
hübsch breite
Pfeiler, da
hat eine Aus-
lage Raum I"
— „Das ver-
unstaltet aber
die Fassade I"
„Nun, dann
ziehe ich nicht
ein, bauen
SieIhrHaus

vernünftig-
er!" And die
Auslage wird
errichtet, das

Prachthaus muß ja „tragen". Die schöne Rustica wird abgemeißelt, der Bogen
höher gemacht. Dann bringt der „Portaltischler" ein Ungeheuer von Gestell,
welches vorgelegt wird; seine Lisenen endigen in schwülstigen Barock-Hermen, die
zu dem Hochrenaissancestil des Hauses gar nicht paffen; das Holzwerk wird dunkel-
braun gestrichen, dazwischen kommt eine silberblanke Lisenkurtine und oben eine
Firma von Glas mit Goldbuchstaben, welche anzeigt, daß hier Herren-Toilette-
artikel verkauft werden, von den Pfeilern zwischen den Bogen ist nichts mehr
zu sehen; sie sind mit Kasten verhüllt, in denen hinter belgischen Spiegelscheiben
nur seidene Kravatten prangen. Auf diesen Gläsern und diesen Seidenkravatten
ruhen fortan die fünf Stockwerke des riesigen Baues. Nebenan hat sich aber ein
Zuckerbäcker angesiedelt. Auch er breitet sich gewaltig aus, aber sein Gemüth
schwärmt für Gothik. Das Portal seines Geschäftes springt also in Spitzthürmchen
und Fialen empor, zeigt zierliches Maßwerk, aber er ließ es grün anstreichen, hat
eine in Holz geschnitzte Firma in Frakturbuchstaben neben den lapidaren seines
Nachbars; im Aebrigen thut auch er ein Möglichstes in Spiegelscheiben, und das
Gebäude ruht nun in dieser Abtheilung auf Glas und Zuckerwaaren. Dann
kommt eine Modistin, welche ihr Gewölbe in Rokoko ganz goldig dekoriren läßt,
und endlich eine Spielwaarenhandlung mit einem Portal im Schweizerstil. Zahl-
reiche Blechtafeln, rund, oval, viereckig, in allen Farben, vergoldet, schwarz und
bunt, ragen auf Lisenstangen über das Trottoir herüber; es ist eine Lust, dabei
noch an palladio zu denken und an Scamozzi!

Tausende wandeln heute durch die eleganten Straßen unserer Städte, be-
wundern die prachtvollen, stilvollen Architekturen, bewundern nicht minder die
Fülle kostbarer Kunstindustrie-Artikel in den Auslagen — daß aber diese Auslagen
selbst in ihren krassen Disharmonien der Formen, mit der brutalen Rücksichts-
losigkeit ihrer Erscheinung sowohl gegen die Fassade des Hauses, in dem sie sich
befinden, als gegen diejenige der Nachbargeschäfte, alle Harmonie, alle Schönheit
 
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