Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 16.1936
Zitieren dieser Seite
Bitte zitieren Sie diese Seite, indem Sie folgende Adresse (URL)/folgende DOI benutzen:
https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0387
DOI Heft:
Heft 5
DOI Artikel:Stendel, Wolfgang: Das Handtäschchen
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0387
Geldbörse zusammengebunden als Anhängsel unter dem weiten Überrock. Im
16. Jahrhundert kamen zu einer schlankeren Gewandung Gürteltaschen auf,
bäuerische aus Leder, zur städtischen Straßentracht Taschen aus Stoff, die bei
Vornehmen reich bestickt oder gar kostbare Goldschmiedearbeit waren. Die
späte Mitte des 18. Jahrhunderts brachte mit der Sitte des Tabakschnupfens
breitfallende Schürzen mit aufgesetzten Taschen. Um die Jahrhundertwende, als
die Mode wieder enge Röcke gebot, kam der Handbeutel, das Reticule, das in
Ridikül verdolmetscht und bald wirklich lächerlich wurde. Dann barg ein metalh
verziertes Strickkörbchen, das Balantin, die vielbewitzelten Geheimnisse, dann
verschwanden sie wieder unter dem Überrock weiter Gewänder und gaben in^
diskreten Zeichnern Stoff zu billigem Spott. Und seitdem ist die Tasche eine
Handtasche. Sie hat Ledersorten an den Tag gebracht, mit denen man Museen
füllen könnte, sie hat die raffiniertesten und umständlichsten Verschlüsse erfinden
lassen. Aber ob mit Griff oder Riemen, mit Henkel oder Schluppe, ob mit Drucke
knopf, Schnalle oder Reißverschluß, alles sagt doch nur: das Täschchen ist
Heiligtum.
In großen Rohrplattenkoffern verzeichnen Merkzettel alle auf einer Urlaubs^
reise etwa notwendig werdenden Gegenstände. Der Inhalt eines Handtäschchens
läßt sich schlechterdings nicht aufzählen. Taschentuch, Kamm, Spiegel, Pudern
dose, Parfümfläschchen, Geldbörse und Hausschlüssel mögen allenfalls übliche
Unerläßlichkeiten sein. Aber schon mit dem Hausschlüssel hat es eine besondere
Bewandtnis. Für den Mann ist der Hausschlüssel ein lästiger Gegenstand. Er hat
seinen angestammten Platz in einer entlegenen Tasche. Bei einer jungen Dame
behält er auch durch jahrealten Berufstrott hindurch den Gemütswert jener ersten
Selbständigkeit, die von den Ratschlägen mütterlichen Behütens begleitet war.
Eine junge Dame wird es nie versäumen, ihn im Verlauf des Abends mit stolzem
Lächeln vorzuweisen, meistens mit der Bemerkung, es dürfe heute bestimmt
nicht spät werden.
Solcherlei Nützlichkeiten sind zu notwendig und zu oft im Gebrauch, als daß
sie nicht gelegentlich vergessen werden könnten. Viel behüteter sind die eigent^
lieh überflüssigen Dinge. Wenn eine Dame beim Weggehen ihr Handtäschchen
prüft, denkt sie an das Notwendige immer nur beiläufig. Aufschlußreich dafür
ist der Lippenstift. Eine junge Dame, die den Lippenstift täglich benutzt, wird
nie ganz genau wissen, ob sie ihn nicht gerade heute vergessen hat. Eine junge
Dame, die ihn nur in abenteuerlichen Ausnahmefällen benutzt, vergißt ihn nie.
Das Taschenbuch ist beiläufig von Nutzen durch eine Notizenseite, auf der
Telephonadressen vermerkt sind. Etwaige Eintragungen sind eine Geheimschrift
von Kreuzen, Strichen und Anfangsbuchstaben. Aber sie sind unwichtig, weil sie
nach weniger Zeit der Schreiberin selbst rätselhaft werden. Seinen eigentlichen
Gemütswert hat das Buch durch das, was darin eingelegt ist. Jedes Notizbuch
birgt Visitenkarten und Zettel mit Adressen. Die Karten sind manchmal jähren
alt und nicht mehr identifizierbar, die Adressen weiß die Eignerin entweder
auswendig oder sie wird nie Gebrauch davon machen. Diese Karten und Zettel
haben ihren praktischen Wert verloren, aber sie sind Dokument und bleiben er^
halten. Die Photographien, die in dem Notizbuch liegen, haben keinen Er^
279
16. Jahrhundert kamen zu einer schlankeren Gewandung Gürteltaschen auf,
bäuerische aus Leder, zur städtischen Straßentracht Taschen aus Stoff, die bei
Vornehmen reich bestickt oder gar kostbare Goldschmiedearbeit waren. Die
späte Mitte des 18. Jahrhunderts brachte mit der Sitte des Tabakschnupfens
breitfallende Schürzen mit aufgesetzten Taschen. Um die Jahrhundertwende, als
die Mode wieder enge Röcke gebot, kam der Handbeutel, das Reticule, das in
Ridikül verdolmetscht und bald wirklich lächerlich wurde. Dann barg ein metalh
verziertes Strickkörbchen, das Balantin, die vielbewitzelten Geheimnisse, dann
verschwanden sie wieder unter dem Überrock weiter Gewänder und gaben in^
diskreten Zeichnern Stoff zu billigem Spott. Und seitdem ist die Tasche eine
Handtasche. Sie hat Ledersorten an den Tag gebracht, mit denen man Museen
füllen könnte, sie hat die raffiniertesten und umständlichsten Verschlüsse erfinden
lassen. Aber ob mit Griff oder Riemen, mit Henkel oder Schluppe, ob mit Drucke
knopf, Schnalle oder Reißverschluß, alles sagt doch nur: das Täschchen ist
Heiligtum.
In großen Rohrplattenkoffern verzeichnen Merkzettel alle auf einer Urlaubs^
reise etwa notwendig werdenden Gegenstände. Der Inhalt eines Handtäschchens
läßt sich schlechterdings nicht aufzählen. Taschentuch, Kamm, Spiegel, Pudern
dose, Parfümfläschchen, Geldbörse und Hausschlüssel mögen allenfalls übliche
Unerläßlichkeiten sein. Aber schon mit dem Hausschlüssel hat es eine besondere
Bewandtnis. Für den Mann ist der Hausschlüssel ein lästiger Gegenstand. Er hat
seinen angestammten Platz in einer entlegenen Tasche. Bei einer jungen Dame
behält er auch durch jahrealten Berufstrott hindurch den Gemütswert jener ersten
Selbständigkeit, die von den Ratschlägen mütterlichen Behütens begleitet war.
Eine junge Dame wird es nie versäumen, ihn im Verlauf des Abends mit stolzem
Lächeln vorzuweisen, meistens mit der Bemerkung, es dürfe heute bestimmt
nicht spät werden.
Solcherlei Nützlichkeiten sind zu notwendig und zu oft im Gebrauch, als daß
sie nicht gelegentlich vergessen werden könnten. Viel behüteter sind die eigent^
lieh überflüssigen Dinge. Wenn eine Dame beim Weggehen ihr Handtäschchen
prüft, denkt sie an das Notwendige immer nur beiläufig. Aufschlußreich dafür
ist der Lippenstift. Eine junge Dame, die den Lippenstift täglich benutzt, wird
nie ganz genau wissen, ob sie ihn nicht gerade heute vergessen hat. Eine junge
Dame, die ihn nur in abenteuerlichen Ausnahmefällen benutzt, vergißt ihn nie.
Das Taschenbuch ist beiläufig von Nutzen durch eine Notizenseite, auf der
Telephonadressen vermerkt sind. Etwaige Eintragungen sind eine Geheimschrift
von Kreuzen, Strichen und Anfangsbuchstaben. Aber sie sind unwichtig, weil sie
nach weniger Zeit der Schreiberin selbst rätselhaft werden. Seinen eigentlichen
Gemütswert hat das Buch durch das, was darin eingelegt ist. Jedes Notizbuch
birgt Visitenkarten und Zettel mit Adressen. Die Karten sind manchmal jähren
alt und nicht mehr identifizierbar, die Adressen weiß die Eignerin entweder
auswendig oder sie wird nie Gebrauch davon machen. Diese Karten und Zettel
haben ihren praktischen Wert verloren, aber sie sind Dokument und bleiben er^
halten. Die Photographien, die in dem Notizbuch liegen, haben keinen Er^
279