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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 16.1936

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Heft 5
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Bedel, Maurice: Die Mädchen mit dem starken Herzen
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https://doi.org/10.11588/diglit.74679#0393

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Wohin immer meine Neugierde mich führen mag, auf welchen Breiten und
Längegrad immer, vom Ladogasee bis an die Ufer der Marmara, von den Balkans
bergen bis zu den Ebenen Estlands, überall sehe ich reizende, sanfte, junge Kinder,
die sich mit Heldenmut in den Lebenskampf stürzen.
Sie sind weniger gut beraten als die Knaben und bei der Wahl eines Berufes
mehr von der Intuition geleitet als von der Hilfe und der Ermutigung ihrer
Umgebung. Ihre einzige Waffe ist ihr Wille, der sehr stark ist, und eine gewisse
Naivität des Ehrgeizes, die sie jedes Hindernis übersehen läßt. Mit diesem schwäche
liehen Apparat ausgerüstet, gehen sie zum Angriff über. Aber sie scheinen sich
seiner geschickt zu bedienen, denn bei gleichem Intelligenzgrad sind doch immer
sie es, die in vielen Berufen, für die man sie noch vor zwanzig Jahren für völlig
ungeeignet gehalten hätte, über die jungen Männer den Sieg davontragen. Sie
sitzen an exponierten Posten der Wissenschaft, der Verwaltung und des Zeitungs^
wesens. Wer leitet den Pressedienst des Auswärtigen Amtes in Litauen? Ein junges
Mädchen. Wer leitet in Rom — wenigstens zur Zeit, als ich das letztemal dort
war — die bedeutende Bibliothek des internationalen Ackerbauinstitutes, wo alle
landwirtschaftlichen Schriften der Welt zusammenlaufen? Ein junges Mädchen,
eine Französin. Und wieder ein junges Mädchen, eine kleine Journalistin mit
einem rosigen Kindergesicht, erwartete mich eines Wintermorgens bei Frost
und Schnee am Kai des Bottnischen Meerbusens, um mich zu fragen, was ich
über den Fascismus dächte; und jenes türkische Mädchen, das mich zuerst zu
einer Riesengarage führte, um mir die moderne Entwicklung von Kemals Reich
deutlich vor Augen zu führen; und jene Lettin, die in Riga den Chor der Studentin^
nen leitet?

Welchen Weg durch Europa immer ich mir vergegenwärtige, überall begegne
ich dem hellen Lachen eines jungen Mädchens, das tatkräftige Frau und anmutiges
Kind zugleich ist; auf den Ausgrabungsfeldern einer griechischen Insel, in einer
Wiener Bibliothek und an der Spitze einer Eskadron weiblicher Miliz in Finnland.
Überall der Schwierigkeit des Unternehmens gewachsen, nie von der Nern
artigkeit der Arbeit abgeschreckt, und der jeweiligen Aufgabe vollkommen hin^
gegeben, als wäre es ein Stück von ihr; ihrer Arbeit, mit der sie verwachsen ist,
als hätte sie sie geboren und gesäugt. Diese Art Zärtlichkeit kennt der Mann
nicht; seiner Tätigkeit schenkt er nichts von seinem ureigensten Ich; er mag noch
so verwachsen mit seiner Aufgabe sein, es bleibt doch immer nur Freundschaft,
die er für sie empfindet, und niemals Liebe.
Nun aber kommt der alte Moralist, der mir auf Grund seiner Erfahrung und
Beobachtung beweisen wird, daß die Liebe zur Arbeit in einem jungen Mädchen
jene andere Liebe ertöten muß, jenes wirkliche Liebesleben, das ein gesunder
Körper und Geist nicht missen kann.
Lieber alter Moralist, regen Sie sich nicht auf!
Ich erinnere mich an die schöne, blonde Ungarin, der ich jeden Mittag im
Strandbad meines Budapester Hotels begegnet bin. Sie hatte eine Vertrauens^
Stellung in einem großen Industrieunternehmen der Hauptstadt und verstand

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